FT 5/23 Ergänzung: „Wir wollen die ganzheitlichste und nachhaltigste Ausbildung Deutschlands implementieren!"
Fußballtraining: Benjamin, seit wann bist du in leitender Rolle im LZ aktiv?
Benjamin Liedtke: Nachdem ich meine ersten Trainerschritte in einem kleineren Hamburger Amateurverein gemacht habe, bin ich schließlich über die Fußballschule des FC St. Pauli in das Nachwuchsleistungszentrum gekommen. Dort bin ich in seit mittlerweile 14 Jahren in unterschiedlichen Funktionen aktiv und durfte sowohl als Trainer als auch in der sportlichen Leitung arbeiten. Die lange Zeit in unterschiedlichsten Bereichen ermöglichte mir viele Eindrücke. Neben der Arbeit im LZ habe ich bis vor wenigen Jahren zudem noch meine Lehrerausbildung vorangetrieben und abgeschlossen.
In der Arbeit als Trainer und in der sportlichen Leitung habe ich schon immer einen Widerspruch von Ergebnis und Entwicklung gespürt.
Warum habt ihr euch dazu entschlossen, eine „Rebellution“ anzuzetteln?
Der Fußball, wie ich ihn bei uns erlebt habe, war trotz aller Bekenntnisse immer stark vom Erwachsenenfußball und einem daraus resultierenden Ergebnisdruck geprägt. Dies liegt einerseits im „Spielermarkt“, der sich um die besten Talente aufgebaut hat und andererseits im Wettkampfsystem begründet, das stes Ergebnisse fordert, um den Talenten die höchstmögliche Spielqualität zu gewährleisten.
In der Arbeit als Trainer und in der sportlichen Leitung habe ich schon immer einen Widerspruch von Ergebnis und Entwicklung gespürt. Insbesondere die methodisch-didaktischen Kenntnisse aus der Lehrerausbildung haben mich umgetrieben: Wie müsste eine Ausbildung aufgebaut sein, um wirklich Lernen zu ermöglichen? Dass die Spieler lernen müssen und auch wollen, ist für mich schon immer Voraussetzung für eine nachhaltige Ausbildungsstruktur gewesen.
Nachdem mein Vorgänger den Verein Anfang 2021 kurzfristig verlassen hatte und ich die Leitung übertragen bekam, standen wir aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie vor einem Restart. Diese Situation verstärkte die Überlegungen hinsichtlich einer Neuausrichtung der Talentförderung. Zunächst verständigten wir uns im Verein darauf, dass wir eine Konzeption implementieren möchten, die eine „echte“ Ausbildung möglich macht. Bestandteil dieses „Commitments“ war, dass wir mit Fabian Seeger, der damals DFB-Stützpunktkoordinator in Hamburg war, einen weiteren Mitstreiter dazuholten. Für ihn sprach, dass er über ein Jahrzehnt lang überwiegend in Verbandsstrukturen unterwegs war und sich daher vom permanenten Wettbewerbsdruck losgelöst und hauptsächlich mit der Ausbildung der Talente beschäftigt hatte.
Nachdem wir unsere Gedanken miteinander verglichen hatten, waren wir erstaunt darüber, dass trotz der unterschiedlichen Werdegänge vieles deckungslgeich war: Wir wollten eine echte Ausbildungssystematik und damit für uns im Verein eine Antwort auf die Fehlentwicklungen, erzeugt durch Überprofessionalisierung und der zu starken Orientierung am Erwachsenenfußball, finden. Damit war die „Rebellution“ geboren.
Wie habt ihr eure Gedanken in eine sportliche Konzeption überführt?
Zu Beginn stand eine Vision: Wir wollen die Top-Adresse für Hamburgs Top-Talente sein und die ganzheitlichste und nachhaltigste Ausbildung Deutschlands implementieren. Diese Vision gibt Orientierung und motiviert, das Unerreichbare zu erreichen. Um ihr möglichst nahe zu kommen, war uns schon zu Beginn bewusst, dass wir alle bestehenden Strukturen und Prozesse im LZ überprüfen und konkrete Ziele für unterschiedlichste Bereiche definieren müssen. Denn eine Ausbildung kann nur dann ganzheitlich und nachhaltig sein, wenn alle „Rädchen“ perfekt ineinandergreifen. Auf die übergeordnete Vision folgten Teilbereiche mit „Minivisionen“ und bis zu vier „Key-Results“, welche uns der Umsetzung näherbringen sollten.
Auf welche Teilbereiche habt ihr euch dabei fokussiert?
Wir haben fünf große Themenkomplexe festgelegt: Scouting, Trainings- und Spielphilosophie, Personal- und Strukturmanagement, Identifikation und Zugehörigkeit sowie Potenzialentfaltung.
Wie ging es dann weiter?
Zunächst war es wichtig, eine ganzheitliche Personalstruktur zu implementieren, welche eine funktionierende Zusammenarbeit und eine Ausbildung über viele Jahre hinweg überhaupt erst möglich macht. Daher haben wir über ein großes Strukturbild allen Mitarbeitern ihren Anteil an der optimalen Ausbildung der Spieler aufgezeigt.
Wir beginnen mit der U12, da alle Maßnahmen unterhalb dieser Altersklasse aus unserer Sicht keine seriöse, langfristige Ausbildung zulassen. Denn je früher damit begonnen wird, desto schwieriger gestaltet sich die Talentprognose und auch die Wahrscheinlichkeit eines Drop-outs steigt.
Um auch bei den jüngeren Kickern eine hohe Ausbildungsqualität zu gewährleisten, haben wir den Bereich der Fußballentwicklung geschaffen, der für die Vernetzung und Weitergabe sportlicher Inhalte in die Hamburger Amateurvereine zuständig zeichnet.
Ab der U12 denken wir in Doppeljahrgängen und machen die Trainer zu Altersspezialisten. Sie nehmen bei uns eine ganz besondere Rolle ein. Wir wollen zwar, dass sie Spezialisten für einen bestimmten Bereich sind, uns ist aber auch wichtig, dass sie ein Verständnis dafür entwickeln, was bei den anderen Jahrgängen wichtig ist. Deshalb sind die Trainer bei uns ohne konkrete Mannschaftsbezeichnung eingestellt. Alle müssen zu jedem Zeitpunkt auch einen anderen Jahrgang übernehmen können.
Die Trainer springen für einzelne Einheiten zwischen den Jahrgängen. Aktuell ist beispielsweise der U19-Trainer regelmäßig beim Training der U12 integriert. Dies fördert den Austausch und das Verständnis untereinander, ermöglicht aber auch eine individuellere Betreuung und das Trainieren im Team. Die Trainer übernehmen noch eine weitere Position: In jedem Doppeljahrgang gibt es jeweils einen Konzeptleiter und einen Talententwickler. Ersterer übernimmt die sportliche Leitung für den Doppeljahrgang und begleitet die Umsetzung der Inhalte über beide Jahrgänge hinweg, wohingegen der Talententwickler als zusätzlicher Individualtrainer zur Verfügung steht.
Das Herzstück unserer Ausbildung bildet der neu geschaffene Bereich der Talententwicklung, welcher die Ausbildungsinhalte verantwortet. Diese werden in Ausbildungsmodule gefasst und von allen Mitarbeitern gemeinsam entwickelt, wodurch wir ein dauerhaftes Qualitätsmanagement unserer Inhalte sicherstellen.
Du hast davon gesprochen, dass den Trainern eine besondere Rolle zugedacht wird. Kannst du das noch näher erläutern?
Die Professionalisierung des Nachwuchsfußballs hat auch zu einer Professionalisierung der Trainer geführt. Trainer-sein ist zu einem Beruf geworden. Als ich damals anfing, habe ich als Übungsleiter kein Geld verdient. Dementsprechend war der Anspruch auch eine anderer: Der Idealismus war die treibende Kraft. Mittlerweile sind die Ansprüche an die Spieler gestiegen und mit ihnen auch die Ansprüche an die Trainer. Folglich wurden auch ihre Anstellungsverhältnisse verändert. Dem Trainer-Beruf liegt jedoch keine berufliche oder akademische Ausbildung zu Grunde, wie es zum Beispiel bei einer Lehrerausbildung mit Studium und Referendariat der Fall ist, welche erst dazu befähigt, mit jungen Menschen zu arbeiten. Die Trainer-Ausbildung des DFB kann diese Anforderungen gar nicht erfüllen. Wir legen daher viel Wert auf eine entsprechende Begleitung und Rollenklarheit der Coaches.
Trainer sind bei uns Führungskräfte für High-Potentials. Sie müssen sich ihrer eigenen Bedürfnisse und Motive bewusst sein, um nicht die Spieler für ihre Bedürfnisse zu benutzen, sondern ihr Verhalten so anzupassen, wie es der Spieler braucht. Es geht darum, spielerzentriert zu agieren.
Hierzu nutzen wir eine Persönlichkeitsdiagnostik. Sie soll die Coaches in die Lage versetzen, sich von ihren eigenen Bedürfnissen zu lösen und sich darüber bewusst zu werden, dass man bei einer Fußballmannschaft auf eine heterogene Gruppe von Persönlichkeiten trifft und es nicht nur die eine richtige Vorgehensweise gibt.
Kannst du es an einem Beispiel deutlich machen?
Es geht dabei immer um die Frage, was meinen Spieler antreibt, was ihn zu Höchstleistungenmotiviert? Wir dürfen dabei nicht von uns auf andere schließen. Das, was mich anspornt, motiviert nicht zwangsläufig auch mein Team. Dessen muss ich mir bewusst sein. Es gibt Talente, die benötigen permanente Anerkennung über Lob oder zumindest die Aussicht darauf. Es gibt aber auch diejenigen, die eher über eine Fehlerkultur lernen, also direkte und berechtigte Kritik benötigen, um zu lernen.
Aus der Wissenschaft wissen wir, dass Lernen sich am ehesten vollzieht, wenn emotionale Zentren aktiviert werden. Motivation und Emotionen sind dabei also ganz eng verknüpft.