Table of Contents Table of Contents
Previous Page  31 / 36 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 31 / 36 Next Page
Page Background

31

S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 6 / 2 0 1 5

Der Strafstoß für den FC Bayern

im Spiel gegen den FC Augsburg

erregte am 4. Spieltag die Ge-

müter. In der „Süddeutschen“

geht Redakteur Christof Kneer

sehr fair und in gut erklärender

Weise mit diesem schiedsrich-

terlichen Unglück des Teams

um Knut Kircher um.

Gut zweieinhalb Stunden hat Knut

Kircher gebraucht, bis er wieder zu

Hause war. Er hat schon schönere

Heimfahrten nach Rottenburg am

Neckar erlebt, auch die Presse-

schau am Abend ist schon mal ent-

spannter ausgefallen. Natürlich hat

er zu Hause noch mal die Szene

des Tages angeschaut, natürlich

hat er noch mal all die Sätze

gehört, und einmal ist er sich

selbst auf dem Bildschirm erschie-

nen. Kircher sah also Kircher und

hörte ihn sagen: „Das bringt Augs-

burg leider keine Punkte mehr,

sorry, tut uns leid, aber Wahrneh-

mung und Auslegung waren falsch.

Das war kein Elfmeter.“

Knut Kircher ist der Mann, dem die

Spieler vertrauen. Das Sportmaga-

zin

„kicker“

veranstaltet regelmä-

ßig eine Umfrage unter Fußballpro-

fis, und bei der Frage nach dem

beliebtesten Schiedsrichter landet

Kircher nur dann auf Platz zwei,

wenn er nicht gerade auf Platz eins

landet. Kircher ist der riesenhafte

Ruhepol in einer dauererregten

Branche. Es wird dunkel, wenn er

sich vor den Fußballern aufbaut

und mit seiner Körpergröße von

1,96 Meter Schatten wirft, und wenn

es um ihn herum besonders wild

tobt, legt er den Spielern aus gro-

ßer Höhe die Hand auf die Schulter.

Meistens reicht das zur Deeskalie-

rung. Beim Spiel der Bayern gegen

Augsburg reichte es nicht.

Knut Kircher habe „gut gepfiffen“,

er sei „sehr souverän aufgetreten“,

das müsse man „mal loben“. Das

sagte später weder ein Schiedsrich-

ter-Funktionär noch Knut Kirchers

Machtlos im

Signalgewitter

Ehefrau. Es sagte Jan-Ingwer Call-

sen-Bracker, Abwehrspieler jener

Augsburger Elf, die Kirchers spek-

takulärer Fehlentscheidung eine

1:2-Niederlage in letzter Minute

zu verdanken hatte. Auch Augs-

burgs Torwart Marvin Hitz, der

den unberechtigen Elfmeter aus

dem Tor klauben musste, meinte,

Kircher habe „ja nichts machen

können, wenn der Assistent die

Fahne hebt“.

der Teamchef und für die Entschei-

dung verantwortlich.“

Der Fehlpfiff von München gewährt

einen anschaulichen Einblick in

das Handwerk eines Schiedsrichter-

Teams: Er zeigt, welche komplexen

Wege gerade die geschulten Wahr-

nehmungen mitunter gehen

können, bis sie sich zu einer Ent-

scheidung – in diesem Fall Fehlent-

scheidung – verdichten.

Schiedsrichter keine hundertpro-

zentige Wahrnehmung hat, der

Assistent sich aber sicher ist, dann

übernimmt der Chef die Entschei-

dung“, sagt Kircher. Aber als er mit

seinen Assistenten kurz nach Spiel-

schluss die ersten Bilder sah, sah

er, dass er nichts sah: Es gab kei-

nen Check, keinen Rempler, keinen

verirrten Arm, es gab überhaupt

keine aktive Bewegung von Feulner

in Richtung Costa – eine solche

Bewegung wäre die Voraussetzung

gewesen, um den Tatbestand „Foul“

überhaupt in Erwägung zu ziehen.

Es zählte zu den Kuriositäten des

Tages, dass Kircher seinen Irrtum

vor den Kameras schon längst

mannhaft eingeräumt hatte, als

mancher Bayer die Szene immer

noch auf versteckte Foulanteile

absuchte. „Douglas macht einen

Haken, und Feulner blockiert ihn

schon“, meinte etwa Thomas Mül-

ler, „von einer ‚Schwalbe‘ war das

weit entfernt.“ Müller hatte aber

ohnehin seinen skurrilen Tag, weil

er im Spiel diesmal ein paar sehr

lustige Tapsigkeiten vorführte, die

ihn selbstverständlich nicht daran

hinderten, mit der Vorlage zu

Lewandowskis 1:1 (77.) und dem

Elfmeter zum 2:1 das Spiel zu ent-

scheiden. „Den Elfmeter muss

man nicht geben, kann man aber“,

sagte er.

Das konnte man zwar nicht, aber

man muss wohl den Rest des Spiels

betrachten, um solche Sätze zu

verstehen. Die Bayern waren einer-

seits etwas genervt von sich selbst,

Pep Guardiola mahnte angesichts

der gemütlichen ersten Hälfte, man

müsse „90 Minuten spielen, nicht

45“, und er hoffe, „dass das eine

Lehre für die Zukunft“ sei. Anderer-

seits hat es den Bayern nicht ge-

fallen, dass die Elfmeter-Debatte

„die zehntausend Prozent Ball-

besitz“ überdeckte, die das 2:1 am

Ende rechtfertigten.

Das Spiel Bayern gegen Augsburg

wird Knut Kircher übrigens nie

mehr pfeifen, aber das liegt nicht

an der Fahne seines Assistenten.

Kircher, 46, hat die vom DFB vor-

geschriebene Altersgrenze dem-

nächst erreicht und wird am

Saisonende aufhören.

Der falsche Strafstoß wurde nicht nur im Spiel, sondern auch

in den Tagen danach diskutiert.

Zwar klang bei jedem Augsburger

eine massive Verärgerung über

Thomas Müllers unberechtigtes

Elfmetertor durch, die Wortwahl

reichte je nach Temperament,

Stimmung und Technik des Frage-

stellers von „Witz“ (Torschütze

Alexander Esswein), „absoluter

Witz" (Trainer Markus Weinzierl),

„bodenlos“ (derselbe) und „Frech-

heit“ (derselbe) bis zu „keine

Ahnung, wie er das da draußen

nicht sehen kann“ (Torwart Hitz);

und vor der x-ten Kamera ließ sich

Weinzierl am Ende noch zu der

Formulierung hinreißen, sein Team

sei „beschissen worden“. Aber

direkt oder indirekt enthielt jeder

dieser Vorwürfe die Botschaft: Der

Kircher, der kann nix dafür. Der

Assistent Kempter, der war's!

Natürlich kann Kircher diese

ehrenvolle Interpretation nicht

gutheißen, kraft Amtes, aber

auch aus Überzeugung. „Robert

Kempter hat mich über die Jahre

schon in so vielen Spielen in

engen Situationen gerettet“,

sagte er nach einer eher kurzen

Nacht, „wir sind ein Team, ich bin

Als Bayerns Douglas Costa von

rechts draußen loszog, hatte Kir-

cher seinen Blick eher zur Mitte

gerichtet, weil die Schiedsrichter

seit dieser Saison aufgefordert

sind, heimliche Umtriebe im Straf-

raum schärfer zu ahnden. „Wir

wollen in dieser Saison noch mehr

auf das Positionsgerangel im Zent-

rum achten“, sagt Kircher, „etwa

darauf, ob ein Abwehrspieler einen

Stürmer hält oder wegschiebt,

bevor der Ball da ist.“

So nahm Kircher nur aus dem

Augenwinkel den „Auffahr-Unfall“

auf der rechten Spur wahr: Costa

schlug einen Haken, rumpelte in

Augsburgs Markus Feulner hinein

und stürzte – im nächsten Moment

ging ein Signalgewitter über Kir-

cher nieder. Der Empfänger in sei-

nem Ohr piepte, der Empfänger an

seinem Oberarm vibrierte, und

draußen zückte der Assistent

Kempter die Fahne, funkte Foul

und blieb auch auf Nachfrage bei

seinem fatalen Urteil.

„Unter allen Schiedsrichter-Teams

gilt die Absprache: Wenn der

Blick in die Presse