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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 6 / 2 0 1 5
Der Strafstoß für den FC Bayern
im Spiel gegen den FC Augsburg
erregte am 4. Spieltag die Ge-
müter. In der „Süddeutschen“
geht Redakteur Christof Kneer
sehr fair und in gut erklärender
Weise mit diesem schiedsrich-
terlichen Unglück des Teams
um Knut Kircher um.
Gut zweieinhalb Stunden hat Knut
Kircher gebraucht, bis er wieder zu
Hause war. Er hat schon schönere
Heimfahrten nach Rottenburg am
Neckar erlebt, auch die Presse-
schau am Abend ist schon mal ent-
spannter ausgefallen. Natürlich hat
er zu Hause noch mal die Szene
des Tages angeschaut, natürlich
hat er noch mal all die Sätze
gehört, und einmal ist er sich
selbst auf dem Bildschirm erschie-
nen. Kircher sah also Kircher und
hörte ihn sagen: „Das bringt Augs-
burg leider keine Punkte mehr,
sorry, tut uns leid, aber Wahrneh-
mung und Auslegung waren falsch.
Das war kein Elfmeter.“
Knut Kircher ist der Mann, dem die
Spieler vertrauen. Das Sportmaga-
zin
„kicker“
veranstaltet regelmä-
ßig eine Umfrage unter Fußballpro-
fis, und bei der Frage nach dem
beliebtesten Schiedsrichter landet
Kircher nur dann auf Platz zwei,
wenn er nicht gerade auf Platz eins
landet. Kircher ist der riesenhafte
Ruhepol in einer dauererregten
Branche. Es wird dunkel, wenn er
sich vor den Fußballern aufbaut
und mit seiner Körpergröße von
1,96 Meter Schatten wirft, und wenn
es um ihn herum besonders wild
tobt, legt er den Spielern aus gro-
ßer Höhe die Hand auf die Schulter.
Meistens reicht das zur Deeskalie-
rung. Beim Spiel der Bayern gegen
Augsburg reichte es nicht.
Knut Kircher habe „gut gepfiffen“,
er sei „sehr souverän aufgetreten“,
das müsse man „mal loben“. Das
sagte später weder ein Schiedsrich-
ter-Funktionär noch Knut Kirchers
Machtlos im
Signalgewitter
Ehefrau. Es sagte Jan-Ingwer Call-
sen-Bracker, Abwehrspieler jener
Augsburger Elf, die Kirchers spek-
takulärer Fehlentscheidung eine
1:2-Niederlage in letzter Minute
zu verdanken hatte. Auch Augs-
burgs Torwart Marvin Hitz, der
den unberechtigen Elfmeter aus
dem Tor klauben musste, meinte,
Kircher habe „ja nichts machen
können, wenn der Assistent die
Fahne hebt“.
der Teamchef und für die Entschei-
dung verantwortlich.“
Der Fehlpfiff von München gewährt
einen anschaulichen Einblick in
das Handwerk eines Schiedsrichter-
Teams: Er zeigt, welche komplexen
Wege gerade die geschulten Wahr-
nehmungen mitunter gehen
können, bis sie sich zu einer Ent-
scheidung – in diesem Fall Fehlent-
scheidung – verdichten.
Schiedsrichter keine hundertpro-
zentige Wahrnehmung hat, der
Assistent sich aber sicher ist, dann
übernimmt der Chef die Entschei-
dung“, sagt Kircher. Aber als er mit
seinen Assistenten kurz nach Spiel-
schluss die ersten Bilder sah, sah
er, dass er nichts sah: Es gab kei-
nen Check, keinen Rempler, keinen
verirrten Arm, es gab überhaupt
keine aktive Bewegung von Feulner
in Richtung Costa – eine solche
Bewegung wäre die Voraussetzung
gewesen, um den Tatbestand „Foul“
überhaupt in Erwägung zu ziehen.
Es zählte zu den Kuriositäten des
Tages, dass Kircher seinen Irrtum
vor den Kameras schon längst
mannhaft eingeräumt hatte, als
mancher Bayer die Szene immer
noch auf versteckte Foulanteile
absuchte. „Douglas macht einen
Haken, und Feulner blockiert ihn
schon“, meinte etwa Thomas Mül-
ler, „von einer ‚Schwalbe‘ war das
weit entfernt.“ Müller hatte aber
ohnehin seinen skurrilen Tag, weil
er im Spiel diesmal ein paar sehr
lustige Tapsigkeiten vorführte, die
ihn selbstverständlich nicht daran
hinderten, mit der Vorlage zu
Lewandowskis 1:1 (77.) und dem
Elfmeter zum 2:1 das Spiel zu ent-
scheiden. „Den Elfmeter muss
man nicht geben, kann man aber“,
sagte er.
Das konnte man zwar nicht, aber
man muss wohl den Rest des Spiels
betrachten, um solche Sätze zu
verstehen. Die Bayern waren einer-
seits etwas genervt von sich selbst,
Pep Guardiola mahnte angesichts
der gemütlichen ersten Hälfte, man
müsse „90 Minuten spielen, nicht
45“, und er hoffe, „dass das eine
Lehre für die Zukunft“ sei. Anderer-
seits hat es den Bayern nicht ge-
fallen, dass die Elfmeter-Debatte
„die zehntausend Prozent Ball-
besitz“ überdeckte, die das 2:1 am
Ende rechtfertigten.
Das Spiel Bayern gegen Augsburg
wird Knut Kircher übrigens nie
mehr pfeifen, aber das liegt nicht
an der Fahne seines Assistenten.
Kircher, 46, hat die vom DFB vor-
geschriebene Altersgrenze dem-
nächst erreicht und wird am
Saisonende aufhören.
Der falsche Strafstoß wurde nicht nur im Spiel, sondern auch
in den Tagen danach diskutiert.
Zwar klang bei jedem Augsburger
eine massive Verärgerung über
Thomas Müllers unberechtigtes
Elfmetertor durch, die Wortwahl
reichte je nach Temperament,
Stimmung und Technik des Frage-
stellers von „Witz“ (Torschütze
Alexander Esswein), „absoluter
Witz" (Trainer Markus Weinzierl),
„bodenlos“ (derselbe) und „Frech-
heit“ (derselbe) bis zu „keine
Ahnung, wie er das da draußen
nicht sehen kann“ (Torwart Hitz);
und vor der x-ten Kamera ließ sich
Weinzierl am Ende noch zu der
Formulierung hinreißen, sein Team
sei „beschissen worden“. Aber
direkt oder indirekt enthielt jeder
dieser Vorwürfe die Botschaft: Der
Kircher, der kann nix dafür. Der
Assistent Kempter, der war's!
Natürlich kann Kircher diese
ehrenvolle Interpretation nicht
gutheißen, kraft Amtes, aber
auch aus Überzeugung. „Robert
Kempter hat mich über die Jahre
schon in so vielen Spielen in
engen Situationen gerettet“,
sagte er nach einer eher kurzen
Nacht, „wir sind ein Team, ich bin
Als Bayerns Douglas Costa von
rechts draußen loszog, hatte Kir-
cher seinen Blick eher zur Mitte
gerichtet, weil die Schiedsrichter
seit dieser Saison aufgefordert
sind, heimliche Umtriebe im Straf-
raum schärfer zu ahnden. „Wir
wollen in dieser Saison noch mehr
auf das Positionsgerangel im Zent-
rum achten“, sagt Kircher, „etwa
darauf, ob ein Abwehrspieler einen
Stürmer hält oder wegschiebt,
bevor der Ball da ist.“
So nahm Kircher nur aus dem
Augenwinkel den „Auffahr-Unfall“
auf der rechten Spur wahr: Costa
schlug einen Haken, rumpelte in
Augsburgs Markus Feulner hinein
und stürzte – im nächsten Moment
ging ein Signalgewitter über Kir-
cher nieder. Der Empfänger in sei-
nem Ohr piepte, der Empfänger an
seinem Oberarm vibrierte, und
draußen zückte der Assistent
Kempter die Fahne, funkte Foul
und blieb auch auf Nachfrage bei
seinem fatalen Urteil.
„Unter allen Schiedsrichter-Teams
gilt die Absprache: Wenn der
Blick in die Presse