S C H I E D S R I C H T E R -Z E I T U N G 4 / 2 0 1 6
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Analyse
Zum Abschluss der Saison 2015/2016 beleuchten Lutz Michael Fröhlich und Lutz Lüttig noch ein-
mal sieben Szenen aus dem Profi-Fußball, die zum Lehren und zum Lernen dienen können.
Vorteil! Tor! Was gibt es Schöneres?
D
as Regelwerk des Fußballs ist
vor allem darauf ausgerichtet,
das erklärte Ziel des Spiels zu
unterstützen, nämlich ein Tor
zu erzielen. Deshalb werden alle
Versuche bestraft, die sportliche
Überlegenheit der gegnerischen
Mannschaft mit unlauteren Mitteln
zu bekämpfen, sprich gegen das
„Fair Play” zu verstoßen, indem
eben diese Regeln missachtet und
damit übertreten werden.
Wir kennen die Strafen für diese
Vergehen, auch sie sind fest-
gelegt: indirekter und direkter
Freistoß, im Strafraum der
Strafstoß; dazu die Persönlichen
Strafen in Form der Verwarnung
und des Feldverweises auf Dauer,
im Jugendfußball zum Teil auch
auf Zeit.
Aber es gibt noch eine Form der
Strafe, die nicht im Regelwerk
steht, und die – seien wir ehrlich –
den Schiedsrichter, der den Sinn
und Geist der Regeln wirklich
verstanden hat, am meisten
begeistert.
Es steht 0:0 im Bundesligaspiel
FSV Mainz 05 gegen den FC Augs-
burg (28. Spieltag)
, als der Augs-
burger Alfred Finnbogason nach
einem Einwurf mit dem Ball am
Fuß Richtung Mainzer Strafraum
läuft. Rund 20 Meter vor dem Tor
wird er von Alexander Hack zu Fall
gebracht. Schiedsrichter Patrick
Ittrich bewegt sich zunächst in
Richtung des „Tatorts“
(Foto 1b)
,
wartet klugerweise aber noch
einen Moment mit dem Pfiff. Denn
er hat blitzartig erkannt, dass ein
erstklassiger Vorteil – Ballkon-
trolle und Überzahl-Situation - für
die Augsburger entstehen könnte.
Und so kommt es auch: Gedanken-
schnell übernimmt Dominik Kohr
den Ball kurz vor der Mainzer
Strafraumgrenze und leitet ihn,
während der Schiedsrichter mit
erhobenen Armen den „Vorteil“
anzeigt, zu Caiuby weiter
(Foto
1c)
. Mit einem Schuss in die lange
Ecke gelingt dem Brasilianer der
Augsburger Führungstreffer.
Bei einem sofortigen Pfiff hätte es
Freistoß und möglicherweise eine
Gelbe Karte gegen Mainz gegeben.
Schön und gut, aber ein Tor nach
einem „Vorteil“ ist doch die
Höchststrafe für die Mannschaft,
die gegen die Regeln verstoßen
hat. Die Botschaft lautet: Nicht
nur zu erkennen, dass ein Foul
vorliegt, ist die Aufgabe des
Unparteiischen, sondern zugleich
vorauszuahnen, was passieren
könnte.
Die Einführung des „verzögerten
Pfiffs“ in solchen Situationen hat
es uns gestattet, einige Sekunden
zu warten, ob die Ahnung, die man
hat, eintritt - eine kluge, fuß-
ball-förderliche Entscheidung.
Schiedsrichter Patrick Ittrich ist
übrigens auch ein begabter Fuß-
ballspieler, weshalb bei ihm die
Fähigkeit der Antizipation beson-
ders gut ausgebildet ist. Denn je
länger ein Schiedsrichter regel-
mäßig selbst spielt, desto besser
weiß er sich in das Spiel einzu-
fühlen und den Ablauf der nächs-
ten Momente zu erahnen.
Wenn man überhaupt an der
Aktion des Unparteiischen in die-
sem Fall etwas kritisieren möchte:
Er hatte die Arme immer noch
oben, als der Ball über die Linie
ins Mainzer Tor sauste. Das sah
ein bisschen so aus, als würde
der Schiedsrichter als erster
über den Treffer der Augsburger
jubeln…
Aber das wird in Zukunft nicht
mehr passieren. Denn ab sofort
gilt die Regelung, dass es
reicht, wenn zum Anzeigen des
Vorteils ein Arm nach vorn oben
gestreckt wird. So wie es
übrigens Katrin Rafalski auf dem
Foto 1a
schon zeigt. Auch sie
wird sich gern an diese Situation
erinnern.
Eine vorbildliche Auslegung der „Vorteil”-Bestimmung im
Frauen-Pokalfinale 2013: Katrin Rafalski, aktuell Deutschlands
„Schiedsrichterin des Jahres“, ermöglichte damit dem
VfL Wolfsburg ein Tor gegen Turbine Potsdam.
Schiedsrichter Patrick Ittrich wollte gerade das Foul pfeifen,… …als er den Vorteil für die Augsburger Angreifer erkannte.
Foto 1a
Foto 1b
Foto 1c