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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 4 / 2 0 1 4
Lehrwesen
Ein solches Spiel beobachtete der
niedersächsische Schiedsrichter-
Referent Marco Haase in Celle. Der
Gastgeber, der dringend Punkte
gegen den Abstieg aus der Ober-
liga benötigte, traf auf den lang-
jährigen Rivalen VfV Hildesheim.
In seinem Beobachter-Bericht
stellte Marco Haase nachher fest:
Nach einem kurzen Abtasten
nahm die Aggressivität sehr
schnell zu. Beide Mannschaften
gingen nun mehrfach regelwidrig,
teilweise rücksichtslos und mit
hohem Einsatz in die Zweikämpfe.
Der Schiedsrichter erkannte
diese Veränderung des Spielcha-
rakters sofort. Mit dem Einsatz
disziplinarischer Strafen, einer
kleinlichen Spielleitung sowie
einem taktisch sehr klugen Lauf-
vermögen und Stellungsspiel
gelang es dem Unparteiischen
nun bis zum Schlusspfiff, das
schwer zu leitende Spiel sicher
über die Zeit zu bringen.“
Der Schiedsrichter in diesem Spiel
erhielt am Ende eine sehr gute
Bewertung, denn das Spiel stellte
schon nach wenigen Minuten hohe
Anforderungen an ihn. „Nach
einem kurzen Abtasten“ heißt es
auf dem Beobachtungsbogen.
So wusste der Referee aufgrund
seiner Erfahrung und seiner Sensi-
bilität für die Entwicklung des
Spielcharakters, innerhalb kürzes-
ter Zeit seine Spielleitung dem
veränderten Geschehen anzupas-
sen.
Manchmal reicht sogar eine ein-
zelne Spielsituation aus, dass ein
Spiel in der Folge hektisch, bösar-
tig, in vielen Situationen unsport-
lich geführt wird. Etliche der älte-
ren Leser werden sich noch an das
WM-Achtelfinale 1990 im Mailänder
Giuseppe-Meazza-Stadion zwischen
Deutschland und den Niederlanden
erinnern.
Nachdem Schiedsrichter Juan Car-
los Loustau aus Argentinien die-
ses Spiel zunächst im Griff hatte,
kam es in der 22. Spielminute zu
einer unrühmlichen Szene: Frank
Rijkaard foulte Rudi Völler, der
Schiedsrichter notierte die Gelbe
Karte.
In der Annahme, der Referee könne
ihn einen Moment später nicht se-
hen, spuckte Rijkaard seinem Geg-
ner für alle sichtbar ins Haar und
zog wenig später dann auch noch
am Ohr des deutschen National-
spielers.
Dem Niederländer war nicht be-
wusst, dass sein Verhalten bei die-
ser WM mit dem erstmaligen Ein-
satz zahlreicher TV-Kameras in
Zeitlupe und im Standbild schon
wenige Minuten später um die
ganze Welt ging. Die mediale Zei-
tenwende hatte begonnen.
Und auch das trotz aller Rivalitä-
ten bis dahin normal geführte
Spiel hatte mit dieser Aktion eine
Wende genommen. In der Folge
gab es eine Vielzahl verbissener
Zweikämpfe, es wurde um jeden
Meter gerungen. Immer wieder
stand der Unparteiische in der
Kritik, und das Endergebnis von
2:1
für Deutschland bleibt lediglich
etwas für die Statistik. Unverges-
sen bleibt bis heute dagegen das
Geschehen in der 22. Minute, das
in dieser Auseinandersetzung den
Spielcharakter völlig veränderte
und die Spielleitung für den Refe-
ree zur Schwerstarbeit werden ließ.
Doch solche grob unsportlichen
Aktionen geschehen nicht nur
bei Spielen einer Fußball-Weltmeis-
terschaft, sondern auch in unteren
Spielklassen. Dort führen sie
schnell zu „Rudelbildungen“ und
weiteren Unsportlichkeiten.
In Senioren-Spielen, aber auch bei
den Junioren, den Frauen, sogar
bei den Alten Herren muss der
Schiedsrichter dann zur Roten
Karte greifen, weil Spieler ihre
Gegner anspucken, sie schlagen
oder so brutal treten, dass diese
verletzt das Spielfeld verlassen
müssen.
Für den Unparteiischen bedeutet
dies, dass er in der Folge mit hoher
Konzentration, großer Laufleistung
und absoluter Konsequenz durch-
greifen muss.
Nur wenn er jetzt nah am Gesche-
hen agiert, kleinlich jedes Foul
abpfeift, kaum einmal „Vorteil“
gewährt und mit klarer Körper-
sprache gegen fehlbare Spieler
vorgeht, dann behält er sein Spiel
im Griff.
Im Lehrbrief 55 geben die Verfas-
ser Hinweise, welche Faktoren
den Spielcharakter positiv wie
negativ beeinflussen können. Sie
zeigen methodische Wege für die
Lehrarbeit auf, mit denen die
Lehrwarte am Thema „Ein Spiel
ändert seinen Charakter“ arbei-
ten können. Sie geben dem
Schiedsrichter Möglichkeiten an
die Hand, wie er dem von ihm
geleiteten Spiel seinen Stempel
aufdrücken kann.
Gelingt dies, so wird ihm der Beob-
achter am Ende dann auch eine
gute beziehungsweise sehr gute
Leistung bestätigen.
Um ein intensives Spiel in geordnete Bahnen zu bringen, muss der Schiedsrichter besonders
konsequent auftreten – wie Florian Meyer in dieser Situation.
Ein einziger Zweikampf reicht aus, dass selbst in einem
Freundschaftsspiel die Akteure zweier Teams aneinanderge-
raten – wie hier beim Duell Deutschland gegen Italien im
November 2013.