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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 4 / 2 0 1 4
Vier Fragen an Manuel Gräfe
Die praktischen Fragen zum
aktuellen Lehrbrief-Thema
beantwortet dieses Mal FIFA-
Schiedsrichter Manuel Gräfe.
Wie sollte ein Schiedsrichter
seine Spielleitung anlegen,
wenn er weiß, dass es zum
Beispiel für beide Mannschaften
um besonders viel geht?
Manuel Gräfe:
Als Schiedsrich-
ter sollte man jedes Spiel gleich
angehen, das heißt sehr gut vor-
bereitet, immer hoch konzen-
triert und mit der gleichen
Strategie“ – egal in welcher
Spielklasse und egal, was die
Konstellation des Spiels erwar-
ten lässt. Ich lasse grundsätzlich
das Spiel zunächst „auf mich
zukommen“ und entscheide
dann je nach Spielverlauf, wie
ich agiere. Denn es gibt auch
Spiele, die vorher als brisant
eingestuft wurden und dann
passiert doch recht wenig.
Genauso kann umgekehrt in
einem vermeintlich normalen
Spiel auf einmal aufgrund von
diversen Umständen „die Post
abgehen“.
Die alte Spielleitungstheorie,
die mir in meiner Anfangszeit
oft angeraten wurde – „in den
ersten 15 Minuten musst du zei-
gen, wer der Herr im Haus ist" –
war für mich persönlich nie der
richtige Weg. Ich versuche,
mich immer erst mal zurückzu-
halten und die Spieler ihr Spiel
machen zu lassen. Wenn sie
mich als Schiedsrichter aber
fordern, dann muss ich auch
sofort da sein, das heißt aktiv
und gezielt auf die Spieler und
das Spielgeschehen positiv ein-
wirken!
Was sind konkrete Merkmale im
Spiel, anhand derer der Schieds-
richter erkennen kann, dass sich
der Spielcharakter verändert
und er reagieren muss?
Gräfe:
Zunächst einmal ist wich-
tig, dass der Schiedsrichter jeder-
zeit damit rechnet. Es gibt ver-
schiedene Faktoren, die den Spiel-
charakter ändern können. Ganz
simpel kann das zum Beispiel ein
Tor, aber auch eine umstrittene
wichtige Entscheidung des
Schiedsrichters sein. Selbst nach
gravierenden Entscheidungen, die
von allen Beteiligten als korrekt
empfunden werden, wie zum Bei-
spiel ein Feldverweis oder ein
Strafstoß, kann sich der Spiel-
charakter ändern. Weitere Bei-
spiele sind übertrieben emotiona-
les bis aggressives Trainerverhal-
ten, verändertes Zuschauerver-
halten und die Halbzeitpause mit
einer möglichen taktischen Neu-
ausrichtung oder kämpferisch
veränderten Einstellung eines
oder beider Teams.
tet und diese im Keim erstickt, um
das Spiel konsequent nach Sinn
und Geist der Fußballregeln zu
Ende leiten zu können.
Welche praktischen Möglichkeiten
hat der Unparteiische, seine
Spielleitung umzustellen, wenn
das Spiel seiner Einschätzung
nach zu intensiv wird?
Gräfe:
Es gibt mehrere Stell-
schrauben. Grundsätzlich sollte er
noch kommunikativer werden,
was aber nicht mit „Kumpelhaftig-
keit“ verwechselt werden darf. Im
Gegenteil: Er muss beim Anspre-
chen der Spieler noch deutlicher
als zuvor Grenzen ziehen. Dabei
muss das Ziel immer sein, die
Spieler „mitzunehmen“, das heißt,
sie davon zu überzeugen, dass sie
sich gerade auf dem falschen Weg
befinden und sich damit eher
schaden als nützen.
Man kann natürlich auch die
Spielführung enger gestalten,
also weniger laufen lassen und
bei den Spiel- und den Persön-
lichen Strafen kleinlicher leiten.
Schlecht angewandt birgt das
aber auch Gefahren: Man darf
nämlich auch nicht überziehen,
sonst wird es möglicherweise
noch hektischer. Was dann helfen
kann, ist, sich zum Beispiel mal
nach einem Freistoßpfiff vor den
Ball zu stellen und mit den betei-
ligten Spielern zu reden. Dadurch
nimmt man „Dampf raus“, weil es
nicht gleich hektisch weitergeht,
sondern alle Beteiligten ein wenig
herunterkommen“ können.
Was kann der Schiedsrichter noch
tun, wenn alle Maßnahmen nichts
nutzen und ihm das Spiel sprich-
wörtlich „aus dem Ruder zu lau-
fen“ droht?
Gräfe:
Es gibt Abschnitte oder
auch ganze Spiele, in denen man
konsequent seinen Weg gehen
muss, auch wenn das nicht ein-
fach ist und häufig mit zum Teil
heftiger Kritik im und nach dem
Spiel verbunden sein kann.
Was man auf keinen Fall darf,
ist „einknicken“, das heißt,
klarste, unauslegbare Entschei-
dungen umgehen oder sie gar
unterlassen, weil man sonst
noch mehr Probleme befürch-
tet. Dann werden Unsportlich-
keiten belohnt und die Fußball-
regeln auf den Kopf gestellt.
Der unschöne Nebeneffekt
dabei: Die Spieler merken sich
für das nächste Spiel mit die-
sem Schiedsrichter: „Mit dem
können wir es ja machen.“ Der
Autoritätsverlust ist vorpro-
grammiert.
Wenn es derart „aus dem Ruder
läuft“, dass der Fußball allge-
mein oder Beteiligte groben
Schaden nehmen könnten, sollte
man auch einmal zu ungewöhn-
lichen Maßnahmen greifen.
Dazu könnte in solchen Aus-
nahmefällen zählen, beide
Kapitäne oder auch die Trainer
zu sich zu holen und auf diese
einzuwirken, sie an ihre Vor-
bildfunktion zu erinnern, aber
auch an die des Fußballs insge-
samt. Aber wie gesagt, dies
muss die Ausnahme bleiben.
Ich wünsche den Schiedsrich-
tern in allen Spielklassen, dass
sie mit ihren eigenen Mitteln
und Methoden die Spiele immer
in die richtige Bahn lenken kön-
nen.
Alle Antennen ausfahren“
FIFA-Schiedsrichter Manuel
Gräfe (40) pfeift seit zehn
Jahren in der Bundesliga.
All‘ dies kann, aber muss nicht
zu einer Veränderung des Spiel-
charakters führen. Optimal ist
es, wenn der Schiedsrichter
schon kleinste Veränderungen
im Verhalten der Spieler gegen-
einander oder dem Schiedsrich-
ter gegenüber erkennt, denn
das ist ein entscheidendes
Merkmal. Er muss umgehend
darauf reagieren, indem er zum
Beispiel durch verstärkte Kom-
munikation mit den Akteuren
eine Veränderung des Spielcha-
rakters gar nicht erst zulässt.
Manchmal kann er das dennoch
nicht verhindern. Dann heißt es
alle Antennen ausfahren“,
indem er noch konzentrierter
auf sich entwickelnde Aggres-
sionen zwischen Spielern ach-