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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 4 / 2 0 1 4
Wenn auf dem Platz die Emotionen hochkochen, sollte der Schiedsrichter – wie hier Deniz
Aytekin – einen kühlen Kopf bewahren.
Lehrwesen
Ein Spiel und sein Charakter
Dass jedes Fußballspiel seinen eigenen Charakter hat – und dass dieser
sich während der 90 Minuten auch mal ändern kann – darum geht es im
aktuellen DFB-Lehrbrief Nr. 55. Günther Thielking stellt ihn vor.
W
enn nach dem Spiel der Schieds-
richter-Beobachter die Kabine
der Unparteiischen betritt, ist dies
oft ein spannender Moment: Wie hat
der Beobachter die Leistung des
Schiedsrichters gesehen? Dabei
lautet eine wichtige Frage zu Be-
ginn der Spielanalyse oft: Hat der
Referee den Spielcharakter richtig
erkannt und seine Spielleitung ent-
sprechend darauf eingestellt?
Gerade diese Fähigkeit spielt für
die Benotung des Schiedsrichters
eine bedeutende Rolle – neben
Persönlichkeit, Fitness und einigen
weiteren Faktoren.
In der Spielanalyse soll herausge-
funden werden, ob sich die Atmo-
sphäre der Begegnung während
der 90 Minuten verändert hat, zum
Beispiel aufgrund besonderer Situa-
tionen im Spiel.
Es kann passieren, dass sich ein
zunächst freundschaftlich geführ-
tes Spiel plötzlich überzogen
kampfbetont, hektisch, ja sogar
bösartig entwickelt. Andererseits
kann ein Unparteiischer ein aggres-
sives Spiel durch sein Eingreifen
auch in eine positive Bahn lenken.
In beiden Fällen soll der Beobach-
ter bei seiner Gesprächsführung
so vorgehen, dass er den Schieds-
richter die Entwicklung des Spiels
und sein eigenes Verhalten in den
entscheidenden Situationen selbst
reflektieren lässt.
Der Unparteiische soll dabei her-
ausfinden, wo seine Stärken lie-
gen, gleichzeitig aber soll er
noch vorhandene Schwächen in
seinem Auftreten und im Umset-
zen des Regelwerks erkennen.
Dabei muss selbstverständlich
auch die Sichtweise des Beob-
achters in das Gespräch einflie-
ßen. Situationsbezogen wird die-
ser durch klare Statements dem
Unparteiischen positive wie nega-
tive Aspekte aufzeigen, die Ein-
fluss auf die Beobachtungsnote
haben.
Damit die Entwicklung eines Spiels
den Schiedsrichter nicht über-
rascht, sollte dieser sich schon
frühzeitig auf seinen Einsatz vor-
bereiten und Hinweise auf mögli-
che Konfliktpotenziale einholen.
Für eine Spielleitung kann es zum
Beispiel bedeutsam sein, wenn es
bei der gleichen Spielpaarung
bereits in der Vergangenheit Pro-
bleme gab.
Handelt es sich bei dem Spielauf-
trag gar um ein Derby? Ist eine
Mannschaft dabei, deren Betreuer
oder Trainer besonders ehrgeizig
sind? Sind bei einem Spiel der
Junioren übermotivierte Eltern
mit dabei? Geht es vielleicht so-
gar um die Meisterschaft oder
gegen den Abstieg?
In all‘ diesen Fällen sollte der
gute Unparteiische bereits beim
Eintreffen am Spielort das Umfeld
aufmerksam im Auge haben und
seine anschließende Spielleitung
darauf einstellen. Hat die Erfah-
rung doch gezeigt, dass diese
Indikatoren negativen Einfluss
auf den Spielcharakter haben
können.
Die Spuck-Attacke von Frank Rijkaard gegen Rudi Völler ist
bis heute unvergessen. Bei dem WM-Spiel 1990 änderte sich
nach diesem Zwischenfall der Spielcharakter.