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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 6 / 2 0 1 2
Porträt
R
icardo Scheuerer hört die Sire-
nen des Polizeiautos nicht, das
an dem Fußballplatz im Süden
Berlins vorbeirauscht. Er hört
nicht die Anfeuerungsrufe der
Berliner Junioren-Mannschaften,
die auf dem Feld einen Kreis bilden
und die Köpfe zusammenstecken.
Und auch seinen Pfiff hört er
nicht, mit dem er das Pokalspiel
zwischen dem SC Berliner Amateure
und dem SSV Köpenick-Oberspree
freigibt. Scheuerer ist Schiedsrich-
ter. Und gehörlos.
Mit einem Hörgerät kann der 17-
Jährige grobe Geräusche wahr-
nehmen, aber darauf verzichtet
er meistens – auch auf dem Platz.
Dann bin ich wieder in meiner
stillen Welt“, erklärt er nach dem
Spiel mit seinen Händen, und Kom-
munikations-Assistentin Susan
Krämer übersetzt.
Einem Passanten, der an diesem
Sonntagmorgen am Tor des Fuß-
ballplatzes in Berlin-Kreuzberg
haltmachen würde, fiele wohl gar
nicht auf, dass der drahtige
Jugendliche mit dem Kurzhaar-
schnitt und der Pfeife um den Hals
kein Schiedsrichter wie jeder
andere ist. Scheuerer rennt, pfeift,
gestikuliert, zieht die Karten wie
seine Kollegen. Nur seine Blicke
unterscheiden ihn, es sind ein
paar mehr: Augenkontakt zu den
Spielern, Kontrollblick zur Seiten-
linie, den Fokus auf den Ball – und
von nichts ablenken lassen.
Mit Beharrlichkeit hat es Ricardo
geschafft, dass er heute hier steht
und B-Junioren-Spiele leitet. Als
er vor drei Jahren eine Werbung
für Schiedsrichter-Nachwuchs sah,
wusste er: Das will ich machen. Ver-
antwortung übernehmen, ein Vor-
bild sein, Selbstbewusstsein gewin-
nen. Ein paar Fußballspiele für
Gehörlose hat er zu dem Zeitpunkt
bereits geleitet, warum dann nicht
auch für Hörende, dachte er sich.
Sein Vorbild Torsten Mertens, der
erste gehörlose Schiedsrichter in
Deutschland, hatte es schließlich
auch geschafft. Also schrieb Ricardo
Bewerbungen an Berliner Vereine
und wartete. Zurück kamen nur
Absagen. „Klar, ich war ent-
täuscht“, meint Scheuerer heute.
Ich fühlte mich diskriminiert.“
Wie Scheuerer kämpfen viele
Gehörlose noch immer um Aner-
kennung, sei es im Beruf oder im
Sport. Ein Wandel zeichnet sich
nur langsam ab. Im Sommer fan-
den die Paralympics mit etwa
4.200
Teilnehmern statt, so vielen
wie noch nie zuvor. „Menschen
mit Behinderung sollten nicht
mehr in Sonderwelten leben, son-
dern mitten unter uns“, fordert
Martin Georgi, Vorstand der
Aktion Mensch“. Er fordert, mehr
Menschen mit Behinderung an
Olympia teilnehmen zu lassen,
zumindest in den Fällen, wo das
möglich ist – und außerdem Olym-
pia und Paralympics zur selben
Zeit und im gleichen Rahmen aus-
zutragen. Das Beispiel von Scheue-
rer zeigt zumindest schon, dass
heute im Sport mehr möglich ist
und sich die Gesellschaft langsam
öffnet.
Ricardo Scheuerer ist gehörlos. Trotzdem pfeift der 17-Jährige Fußballspiele. Und hat alle Kritiker
zum Staunen gebracht. Benjamin von Brackel stellt den Berliner Schiedsrichter vor.
Tipp mal den Schiri an!“
Der Blick ist das Wichtigste“: Ricardo Scheuerer pfeift Fußballspiele der Berliner Junioren.