25
S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 5 / 2 0 1 2
E
igenlob stinkt ja bekanntlich –
auch innerhalb der internatio-
nalen Schiedsrichter-Familie.
Deshalb lassen wir hier zunächst
einmal Günter Netzer zu Wort kom-
men, der vom „Kicker-Sportmaga-
zin“ nach den Schiedsrichter-Leis-
tungen bei dieser EM gefragt
wurde. „Sehr gutes Niveau“, ant-
wortete der durchaus auch
schiedsrichter-kritische Fußball-
Analytiker, „fast alle haben glän-
zend geleitet. Dass ab und zu Fehl-
entscheidungen passieren, gehört
leider dazu. Ich bewundere vor
allem die Assistenten, wie sicher
sie die heiklen Abseits-Situationen
gemeistert haben.“
Da hat man doch während oder
auch nach großen Turnieren schon
ganz andere Töne gehört. Was uns
an der Aussage von Netzer besonders
positiv auffällt: Er stellt die Gesamt-
leistung nicht in Frage, nur weil
dem Schiedsrichter-Team mögli-
cherweise mal ein Einzelfehler
unterlaufen ist. Der grandiose
Spielmacher der 70er-Jahre weiß
eben um die Unvermeidlichkeit
solcher Situationen, egal in wel-
cher Spielklasse. Damit ist Netzer
in seiner Einschätzung realisti-
scher als mancher Fußball-Funktio-
när, der nicht von der wirklich-
keitsfremden Suche nach dem feh-
lerlosen Schiedsrichter lassen
kann.
Zwölf Schiedsrichter mit ihren
Teams (zwei Assistenten für die
Seitenlinien und zwei für die Torli-
nien) hatte die UEFA-Schiedsrich-
ter-Kommission nominiert. Jede
Mannschaft“ leitete mindestens
zwei Spiele, Endspiel-Schiedsrich-
ter Pedro Proenca kam als einziger
vier Mal zum Einsatz. Was bei
genauem Hinschauen noch auffiel:
Körperlich waren alle Schieds-
richter topfit. Das darf heute auch
gar nicht mehr anders sein. Zwar
hat sich die Distanz, die ein Unpar-
teiischer auf diesem Niveau zurück-
legt (10 bis 13 Kilometer) nicht ver-
ändert, dafür aber die Intensität.
Der belgische Fitness-Experte Wer-
ner Helsen hat errechnet, dass sich
die Zahl der Sprints seit 2003 ver-
doppelt hat: „Heute muss ein
Schiedsrichter rund 50 Sprints pro
EM-Analyse
Es begann mit einer „Notbremse“
Gleich zwei Feldverweise im Eröffnungsspiel – wo sollte das hinführen? Aber Lutz Wagner und Lutz
Lüttig stellen in ihrer Rückschau auf die 31 Spiele der EM in Polen und der Ukraine fest, dass durch-
weg Fairness und gegenseitiger Respekt dominierten. Bei der Bedeutung des Turniers liegt es den-
noch auf der Hand, dass es einige Szenen gab, die das nochmalige genaue Hinschauen lohnen.
Die drei Abwehrspieler hätten nicht mehr eingreifen können.
Der Grieche Salpingidis will dem Ball nacheilen, als er von Torwart Szczesny deutlich getroffen wird.
Foto 1a
Foto 1b
Spiel absolvieren, das entspricht in
etwa der Zahl der Sprints eines
Spielers.“
Der Anteil der Schiedsrichter,
die das Spiel im besten Sinne des
Wortes „leiten“, übertraf bei Wei-
tem die Zahl der reinen „Spielver-
walter“.
Der Torrichter wird überschätzt
und konnte in entscheidenden Situa-
tionen nicht wie gedacht helfen.
Nun ist der Schiedsrichter bei
allem aktiven Bemühen, ein Spiel
in der sportlich-fairen Balance zu
halten, doch oft auch der reagie-
rende und nicht so sehr der agie-
rende Part auf dem Spielfeld. Er
schaut, was ihm die Spieler an Ver-
halten anbieten und stellt seine
Maßnahmen darauf ein. Und da gilt
es, bei dieser Europameisterschaft
den Akteuren ein großes Kompli-
ment zu machen.
Vielleicht waren die entspre-
chenden Aktionen der UEFA im
Vorfeld des Turniers der Grund –
auf jeden Fall war der Respekt vor
dem Gegenspieler selten so deut-
lich zu spüren wie hier.
Hinterhältige Aktionen und
grobe Unsportlichkeiten gab es
praktisch gar nicht.