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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 5 / 2 0 1 2
Report
Wenn Gottfried Dienst das „Goal R
Der „International Football Association Board“ (IFAB) hat die technische Unterstützung für Schiedsrichter
Marco Haase hat sich gefragt, was passiert wäre, wenn dem Schweizer Unparteiischen des WM-Endspiels
Verfügung gestanden hätte.
S
amstag, 30. Juli 1966, London,
Wembley-Stadion, 93.000
Zuschauer: Im hochspannenden
WM-Endspiel zwischen England und
Deutschland steht es nach 90 Minu-
ten 2:2 – Verlängerung. 101. Minute,
Englands Geoff Hurst von West Ham
United wird im deutschen Strafraum
mit einer Flanke von rechts bedient
und knallt das Leder aus sechs
Metern Entfernung auf Hans Til-
kowskis Tor. Der Dortmunder Natio-
naltorwart fliegt, der Ball prallt von
der Unterkante der Latte auf den
Boden, Wolfgang Weber vom 1. FC
Köln klärt per Kopf zur Ecke. Geoff
Hurst jubelt. Tor? Oder doch Ecke?
Nicht im Tor! Kein Tor!“ ruft TV-
Reporter Rudi Michel.
Alle Blicke richten sich auf den
renommierten Schweizer Schieds-
richter Gottfried Dienst, einer der
Besten seiner Zeit. Der Abteilungs-
leiter bei der Schweizer Post leitete
bereits vier Jahre zuvor, bei der WM
in Chile, drei Spiele tadellos, darun-
ter das Halbfinale zwischen der
Tschechoslowakei und Jugoslawien
(3:1). 1968
pfiff er auch das EM-End-
spiel zwischen Italien und Jugosla-
wien in Rom.
Hier und jetzt, in der 101. Minute von
Wembley, bleibt Gottfried Dienst
ganz ruhig. Nur zur Sicherheit
schaut er noch mal kurz auf seine
Spezial-Armbanduhr am Handge-
lenk. Beim Schuss von Geoff Hurst
hat dieser besondere Chronometer
keinen Impuls bekommen, also war
der Ball nicht vollständig hinter der
Torlinie. Denn die lange getestete
und inzwischen ausgereifte Technik,
die hier in England zum ersten Mal
bei einer WM benutzt wird, hat kein
Tor signalisiert. Noch ein kurzer
Blickkontakt von Dienst zum Kolle-
gen Tofik Bachramow an der Linie,
dann seine klare Geste: Eckstoß. Nie-
mand protestiert.
Die Ecke der Engländer bringt nichts
ein, Tilkowski kann das Leder sicher
abfangen, der Ball landet über Franz
Beckenbauer und Helmut Haller bei
Uwe Seeler, der mit einem Flach-
schuss ins linke Eck zum 3:2 für
Deutschland trifft. „Uns Uwe“ trifft
in dieser Verlängerung sogar noch-
mal – Deutschland schlägt England
mit 4:2 und wird nach 1954 zum
zweiten Mal Fußball-Weltmeister...
schön wäre es gewesen. Die
Geschichte geht bekanntlich anders
aus. Die Torlinien-Technik gibt es
damals, 1966, bei der Erzielung des
wohl berühmtesten „Tores“ der Fuß-
ball-Geschichte noch nicht. Das
Schiedsrichter-Team entscheidet,
ohne technische Unterstützung, auf
Tor. Ob dabei der Grundsatz „Im
Zweifel kein Tor“ beachtet worden
ist, soll an dieser Stelle nicht weiter
erörtert werden. Als Deutscher gilt
man bei dieser Szene ohnehin nicht
als besonders objektiv. Wobei ja etli-
che Studien darauf hinweisen, dass
der Ball nicht im Tor war, aber las-
sen wir das an dieser Stelle.
46
Jahre und einige weitere popu-
läre „Tore“ bzw. „Nicht-Tore“ später
ist es dann soweit: Der IFAB, im Fuß-
ball das entscheidende Gremium für
alle Regelfragen, entscheidet am
5.
Juli 2012, in Zukunft Torlinien-
Technik zuzulassen. 2008 hatte es
eine solche Technik noch abgelehnt,
stattdessen einen von der UEFA
beantragten Test mit Torrichtern
erlaubt und auch noch im März 2010
die Einführung jeglicher Technik im
Zusammenhang mit Schiedsrichter-
Entscheidungen abgelehnt.
Nun steht es den nationalen Verbän-
den frei, die Technik einzuführen
oder nicht. Die Torrichter sind im
Übrigen weiterhin erlaubt und wer-
den in allen europäischen Wettbe-
werben von der UEFA eingesetzt, in
der Bundesliga allerdings nicht.
Näheres dazu steht im Artikel „Der
Besuch des Präsidenten“ auf Seite 10.
Massiv gefordert wurde die Einfüh-
rung einer solchen Torlinien-Technik
spätestens seit der WM 2010, als
beim Achtelfinal-Sieg der Deutschen
gegen England (4:1) Frank Lampard
ein klares Tor zum möglichen 2:2-
Ausgleich erzielte – der Ball prallte
von der Unterkante der Latte hinter
die Torlinie, und zwar erheblich
deutlicher als es 1966 vielleicht der
Fall gewesen ist. Letzter Auslöser
war dann während der Euro 2012
das erheblich schwieriger zu erken-
nende Tor der Ukraine (auch hier
spielte England mit), das nicht gege-
ben wurde und den EM-Gastgeber
vielleicht den Einzug ins Viertelfinale
kostete. Bei dieser Szene, in der
John Terry den Ball wegschlägt,
muss man schon Zeitlupen und
Standbilder bemühen, um über-
haupt sicher zu sein, dass die Kugel
die Linie vollständig überquert hat.
Insofern ist auch dem Torrichter in
einer solchen Situation kaum ein
Vorwurf zu machen. Ein Fakt, der lei-
der bei vielen öffentlichen Debatten
vernachlässigt wurde (siehe auch
EM-Analyse ab Seite 25).
Die Generalprobe der Torlinien-Tech-
nik wird während der Klub-Weltmeis-
terschaft stattfinden, die die FIFA im
kommenden Dezember in Japan
Drin oder nicht drin? 1966 entschied Gottfried Dienst nach
einem kurzen Abstecher zu Linienrichter Tofik Bachramow auf
Tor für England.