Gewann Bayern das CL-Finale 2001 wirklich erst im Elfmeterschießen?
Einstimmen auf das Finale
Ich besuchte nämlich kurz darauf Michael Henke, den damaligen Co-Trainer der Bayern und sprach mit ihm über die Vorbereitung auf das Finale. Henke war gemeinsam mit Chef-Scout Wolfgang Dremmler für die Gegnerbeobachtung zuständig und erstellte auf dieser Basis mit Ottmar Hitzfeld den Matchplan.
Für die Jüngeren unter euch: Damals hieß das noch nicht Matchplan und es gab auch noch keine Programme, die die Packing-Raten und all das berechneten, was eh keiner wirklich wissen will. Man beobachtete die Spiele des FC Valencia live vor Ort und studierte sie mittels guter alter VHS-Kassetten am Fernseher.
Der FC Bayern München hatte nach dramatischem Spielverlauf den wichtigsten Titel für europäische Vereinsmannschaften verdient gewonnen. Die Medien bereiteten diesen Triumph in Berichten und Analysen nach. Aber wie stimmten Ottmar Hitzfeld und Michael Henke das Team auf das Finale ein? Welche Methoden der Gegnerbeobachtung wurden verwendet? Hat das Trainerduo Antworten auf taktische Besonderheiten des CF Valencia entwickelt? Wenn ja, haben die Spieler sie erfolgreich umgesetzt? Welche Coachingmaßnahmen wurden vor und während des Spiels angewandt? War die finale Glanztat Oliver Kahns nur die Krönung einer optimalen Vorbereitung?
Wie hat sich der FC Bayern auf das Finale vorbereitet?
Am 19.Mai feierte Bayern München mit dem in der letzten Sekunde erzielten Freistoßtor durch Patrick Andersson den Titel-Hattrick. In diesem Jahr schloss sich dem Erfolg jedoch keine ausgelassene Feier an. Die Konzentration aller Beteiligten galt bereits kurz nach dem Schlusspfiff der Vorbereitung auf das "Spiel des Jahres". So kreisten in der Kabine nach dem Schlusspfiff auch keine Sektflaschen, sondern Elektrolytgetränke!
Nach dem Auslaufen und ersten medizinischen Behandlungen erfolgte bereits um 18.30 Uhr der Rückflug nach München. Dort traf sich die Mannschaft auf eigenen Wunsch nur kurz zu einer Meisterschaftsfeier im engsten Kreis mit Ehefrauen, Freundinnen und dem Vorstand in einem Restaurant.
Trainingsplanung und Belastungssteuerung
Die Vorbereitung auf ein Endspiel im Anschluss an eine lange und strapaziöse Saison wirft für jeden Trainer die Frage nach der Planung und Steuerung der letzten Trainingsbelastungen auf. Die Überlegungen und Entscheidungen verlaufen dabei sehr unterschiedlich. Technisch-taktische Trainingsinhalte können unter dem Aspekt "Gegnerorientierung", konditionelle Belastungen unter den Schwerpunkten Regeneration, Spannungsaufbau und Schnelligkeit betrachtet werden. Bezüglich der Belastungsteuerung entschied sich Ottmar Hitzfeld in Abstimmung mit Michael Henke, Konditions- und Rehatrainer Norbert Hauenstein sowie den Vereinsärzten für die Beibehaltung der in der Doppelbelastung Bundesliga/Champions League praktizierten und bewährten Dosierung. Überhaupt bemühten sich die Bayern-Trainer in den Tagen und Stunden vor dem Anpfiff um Normalität. Jeder Spieler wusste um die Bedeutung und vielleicht einmalige Chance dieses Finales. Warum sollte die Mannschaft durch Neuerungen und Änderungen bewährter Abläufe irritiert werden?
Auch die Trainingsinhalte wurden nicht speziell auf dieses Spiel ausgerichtet. Da Hitzfeld, wie noch zu sehen sein wird, sehr auf die eigenen Stärken der Mannschaft sowie die Fähigkeit zur Selbstbestimmung vertraut, fanden sich in den Trainingseinheiten keine spezifischen, an Valencia orientierten Schwerpunkte. Daher verlief das jeweilige Trainingsprogramm nach den aus dem Saisonverlauf gewohnten Mustern. Im Sonntags- wie auch in Sequenzen des Montagstrainings wurde die Mannschaft in zwei Gruppen geteilt: Gruppe A bestand aus den Akteuren, die in Hamburg mehr als 60 Einsatzminuten bestritten hatten, Gruppe B bildeten die Profis mit kürzerer Spielzeit sowie nicht eingesetzte Spieler.
Der Aufenthalt in Mailand
Ein Programmpunkt der Vorbereitung wich jedoch von der Maßgabe, die Normalität weitgehend aufrecht zu halten, ab: Der FC Bayern München reiste bereits am Montag, also zwei Tage vor dem Spiel, nach Mailand – allerdings nur, um dem Medien- und Fanrummel in und um München nach dem spektakulären Titelgewinn zu entgehen. Hitzfeld hoffte, die Mannschaft könne in Mailand besser zu Ruhe und Konzentration finden.
Man startete per Charterflug mit 19 Spielern, dem Trainerstab, Vorstand sowie einigen Journalisten an Bord. Die begrenzte Anzahl der Spieler ist bei Bayern durchaus üblich: Gesperrte, verletzte oder andere nicht für die Begegnung nominierte Akteure dürfen auch bei Bundesligaspielen erst am Spieltag zur Mannschaft stoßen. Hitzfeld will so jede denkbare Ablenkung bereits im Vorfeld rigoros ausschließen.
Zwar dürfen für Begegnungen der Champions League nur 18 Spieler gemeldet werden, die Bayern nehmen jedoch immer einen weiteren Reservisten mit, um für unvorhersehbare Ausfälle durch Verletzung und/oder Erkrankung gewappnet zu sein. Der CF Valencia hingegen hatte zur Förderung des Teamgeistes alle 22 Spieler seines Kaders nach Mailand eingeflogen!
Auch im Quartier sollte die Mannschaft in ihrer Konzentration und Vorbereitung nicht gestört werden. Deshalb wurde der Kreis der im Hotel Anwesenden weiter reduziert - keine Journalisten, keine Sponsoren!
Das Wissen Hitzfelds um die professionelle Berufsauffassung der Spieler, die aber auch als Produkt einer dreijährigen intensiven Schulung unter Einsatz rhetorischer wie – in Einzelfällen – sanktionierender Maßnahmen gewertet werden darf, zeigt sich darüber hinaus in den Vorgaben für den Aufenthalt in dem kleinen, sorgfältig ausgesuchten Hotel:
- keine Pflichttermine vor der Bettruhe
- Die Spieler durften nach dem Abendessen ihre Freizeit selbst bestimmen, das Hotelgelände jedoch allenfalls zu einem kurzen Spaziergang verlassen.
- Die Mahlzeiten wurden zwar in einem geschlossenen Raum eingenommen, es gab jedoch keinen festgelegten Frühstückstermin.
- Daher wurden Langschläfer auch erst um 9.30 Uhr geweckt!
Organisation, Methoden und Kriterien der Gegnerbeobachtung
Die Spiel(er)- und Gegnerbeobachtung gehört zum Aufgabenfeld des Assistenztrainers Michael Henke sowie einer kleinen Gruppe von Scouts unter Leitung und Verantwortung des ehemaligen Bayern-Profis und Nationalspielers Wolfgang Dremmler. In den belastungsintensiven Saisonphasen Herbst und Frühjahr mit vielen Spielen in der Bundesliga und Champions League obliegt diese Funktion jedoch fast ausschließlich den Scouts. Dremmler war nicht nur Augenzeuge der beiden Halbfinalspiele CF Valencia gegen Leeds United am 02. und 08. Mai 2001, sondern beobachtete auch die Meisterschaftsspiele CF Malaga - CF Valencia am 13. Mai (3:0) und Valencia - Athletico Bilbao (1:0).
Die Vorsichtung der Videoaufzeichnungen aller Champions-League-Auftritte der Spanier nach der Winterpause hingegen war Chefsache. Hitzfeld und Henke konzentrierten sich dabei auf die jüngsten Begegnungen und hier recht bald auf die Halbfinalspiele. Nach ihren Vorgaben erstellte Dremmler eine ca. 40minütige Zusammenfassung aus den Kategorien Spielanlage/Organisation, Verhalten bei Standardsituationen, Chancen für/gegen sowie Tore für/gegen den CF Valencia.
Der Anteil Spielanlage in Defensive und Offensive – jeweils aus den Halbfinalspielen und hier vorwiegend ungekürzte Sequenzen von 4 bis 5 Minuten der Anfangsphasen von erster und zweiter Halbzeit – umfasste 20 Minuten. Standardsituationen wurden in begrenzter Anzahl erfasst: Ecken von rechts/links, Freistöße aus verschiedenen Positionen. Torchancen und Tore ordnete Dremmler – auch unter dem Kriterium "Einzelspieler“ – nach quantitativen Kriterien wie Häufigkeit und Übereinstimmung bezüglich Vorbereitung und Abschluss.
Diesen Daten fügte er schriftlich seine bei den Live-Beobachtungen gewonnenen Erkenntnisse bei, die sich auf Besonderheiten im physischen, individualtechnisch-taktischen sowie gruppentaktischen Bereich konzentrierten.
Die vier Beobachtungen in einem Zeitraum von 16 Tagen sollten mögliche, auf der Grundlage einer einzigen Bewertung basierende Fehlurteile ausschließen. Der Wert dieser Akribie wird dadurch unterstrichen, dass Valencia das letzte Meisterschaftsspiel vor dem Finale mit der "zweiten Garnitur" bestritt (Ausnahme Pellegrino). So erhielt Dremmler noch einmal wichtige Hinweise auf mögliche personelle und mannschaftstaktische Alternativen. Es bleibt jedoch reine Spekulation und ist nicht zu belegen, ob die Maßnahme des Valencia-Trainers Hector Cuper, seine A-Elf 10 Tage vor dem Finale zu schonen, letztlich einen Vorteil für die Bayern darstellte.
„Viel über den Gegner wissen zu wollen, bedeutet nicht, sich nach ihm zu richten!“
Selbstverständlich stattete auch Michael Henke am Vorabend des Finales dem Abschlusstraining des CF Valencia den obligatorischen Spionage-Pflichtbesuch ab. Doch ähnlich wie zuvor Hitzfeld nutzte auch Hector Cuper diesen Termin lediglich zur Platzgewöhnung und physischen Einstimmung seines Teams, sodass Henke – durchaus erwartungsgemäß – aus seiner sichtgeschützten Beobachtungsposition hinter einem großen Stützpfeiler nichts erfuhr, was er nicht schon wusste!
Zur Umsetzung der Erkenntnisse im Finale
Auffällig ist die präzise, auf die positionsspezifischen- und relevanten Kriterien reduzierte Kurzcharakteristik der einzelnen Spieler, die Darstellung ihrer jeweiligen Aktionsräume und die Erwähnung personeller Alternativen.
Auf diese Weise erspart Dremmler dem Trainergespann eine wahre Datenflut, die in der Spielvorbereitung nur hinderlich ist: So erfährt das von Verteidiger Pellegrino bevorzugte Spielbein weniger Interesse als seine von Dremmler diagnostizierte "Unbeweglichkeit“. Deshalb bemühte sich Elber jeweils zu Beginn der Spielabschnitte, gezielt in Pellegrinos Zuständigkeitsbereich einzudringen, um seine Wendig- und Schnelligkeit gegen ihn einsetzen zu können. Da Pellegrino und Ayala jedoch spätestens mit Janckers Einwechslung weitgehend zu einer "typgebundenen“ Manndeckung wechselten, hatte diese Maßnahme nicht die erwünschte Effektivität.
Angreifer Zahovic hingegen verfügt lediglich über einen "linken Fuß", was er in der Verlängerung bestätigte, als er Carews Hereingabe auf seinen rechten Fuß nicht verwerten konnte. Er legte sich den Ball nach Dribblings wiederholt auf links, so daß Bayerns Abwehrspieler noch rechtzeitig stören konnten.
Ottmar Hitzfeld erläuterte die Laufwege der Valencia-Spieler und jeweiligen Zuordnungen bei Standardsituationen bereits während der Videopräsentation und listete letztere in der abschließenden Mannschaftssitzung noch einmal tabellarisch auf. Dort verzichtete der Bayern-Trainer allerdings auf eine ausführliche und deshalb vielleicht nur verwirrende zeichnerische Skizzierung der betreffenden Manöver an der Tafel.
Die offensivstarke rechte Seite des CF Valencia mit dem gut harmonierenden Gespann Mendieta/Angloma wollten Hitzfeld und Henke neben Lizarazu mit dem in der Defensive starken Salihamidzic statt des ansonsten links agierenden Scholl kontrollieren. Dieser Schachzug darf nicht nur bezüglich der Abwehrarbeit als äußerst erfolgreich bewertet werden: Ein nicht primär beabsichtigter, sondern allenfalls Nebeneffekt wurde zur spielbestimmenden Auffälligkeit der ersten Halbzeit. Lizarazu und Salihamidzic inszenierten über den linken Flügel immer wieder gefährliche Angriffe gegen dieses internationale Spitzenduo und zählten wohl zu den effektivsten Akteuren in dieser Phase.
Hitzfeld und Henke erwarteten John Carew als vornehmlich links orientierten Angreifer, beließen jedoch trotz körperlicher Nachteile Sammy Kuffour auf der rechten Position in der Dreierkette. Kuffour verlor den vorentscheidenden Zweikampf gegen Carew vor dem 0:1, doch Hitzfeld sah hier und auch im weiteren Spielverlauf keine Veranlassung, den kopfballstärkeren Thomas Linke auf diese Position zu beordern. Zwar ist auch Linke als Rechtsfuß nicht unbedingt für die linke Abwehrseite prädestiniert, jedoch hier mit seinem nur unwesentlich schwächeren linken Fuß für das Bayern-Aufbauspiel effektiver.
Das Spiel im Zeitraffer
3. Minute: Dem im Strafraum liegenden Andersson wird der Ball gegen den Arm geschossen; Mendieta verwandelt sicher. 0:1.
7. Minute: Scholl schießt Elfmeter nach Anglomas Foul an Effenberg direkt auf Canizares.
Valencia überlässt den Münchnern in der Folgezeit fast kampflos das Mittelfeld. Bayern stürmt, entwickelt besonders über die linke Seite mit Lizarazu und Salihamidzic gegen Mendieta und Angloma immer wieder Druck. Elber, Scholl und Sagnol verpassen jeweils den Ausgleich.
50. Minute: Jancker, in der Pause für Sagnol eingewechselt, erzwingt ein Handspiel von Pellegrino im Strafraum. Effenberg verlädt Canizares. 1:1.
Danach ausgeglichenes, von Bayern kontrolliertes Spiel ohne Höhepunkte. Erst in der Schlussphase haben beide Teams noch einmal Chancen: Kahn rettet vor Zahovic, Jancker zielt knapp neben das Tor.
Verlängerung: Wieder ist Bayern die aktivere, scheinbar willensstärkere Mannschaft. Die Anzahl der Torchancen ist jedoch ausgeglichen: Elber und Sergio auf Münchner, Zahovic und Mendieta auf der anderen Seite.
Elfmeterschießen: Sergio schießt über das Tor, Canizares hält gegen Andersson, Kahn pariert drei Versuche der Spanier. Bayern München ist am Ziel.
Bedeutung von Strategie und Taktik im Finale
Medien und Fans rätselten und spekulierten vor dem Spiel, mit welcher Taktik Bayern das Spiel beginnen würde. Spielen sie abwartend oder streben sie einen Blitzstart wie in Manchester und Madrid an? Auch der Stratege Ottmar Hitzfeld hatte diese Erwartungshaltung im Vorfeld gefördert, als er angesichts der sehr guten Organisation beider Mannschaften der Taktik einen sehr hohen Stellenwert zuschrieb. Bayern musste dann jedoch nach Meinung vieler Beobachter alle taktischen Überlegungen mit dem frühen Führungstor für Valencia über Bord werfen. Tatsächlich? Mit welcher mannschaftstaktischen Vorgabe hatte Ottmar Hitzfeld die Spieler in das Finale geschickt?
Der Spielverlauf kann Aufschluss über Hitzfelds "strategische Fähigkeiten“ wie auch die eines Führungsspielers wie Stefan Effenberg geben. Hitzfeld hat den Spielern Spiel- und Handlungsfähigkeit vermittelt, während Effenberg sich seit seiner Rückkehr nach München als der lenkende Mittelfeldstratege etablierte, der Spielsituationen und Spielphasen schnell beurteilen sowie entsprechende Lösungsmöglichkeiten sofort abrufen und umsetzen kann.
Hitzfeld und Henke haben den Schwerpunkt der taktischen Ausbildung beim FC Bayern seit ihrem Amtsantritt auf die Flexibilität gelegt. Die Mannschaft soll in der Lage sein, auf die aktuellen, unterschiedlichen Spielanforderungen die jeweils notwendigen Handlungsmuster schnellstmöglich anwenden zu können. Diese Kompetenz verlangt u.a. neben technisch-koordinativen, sensorischen und intellektuellen Fähigkeiten auch psychische und charakterliche Eigenschaften wie Selbstsicherheit, Mut, innere Ruhe, Aggressivität, Verantwortungsbewusstsein und Willenskraft – Attribute, die der FC Bayern bereits in der Endphase der Meisterschaft nachhaltig demonstriert hatte!
Die Mannschaft beherrscht das Spiel mit Libero, Dreier- und Viererkette sowie Angriffskonzeptionen mit zwei, drei oder gar vier Spitzen. In jeder Formation kennt jeder Spieler seine Aufgaben und zumindest die seiner Nebenspieler. Vor diesem Hintergrund ist die taktische Grundausrichtung der Mannschaft einzuordnen, die sich grundsätzlich nicht am Gegner oder an theoretischen Konstruktionen vor Spielbeginn orientiert. Zwar wird auf Besonderheiten des Gegners im individual- oder gruppentaktischen Bereich reagiert, das mannschaftliche Konzept beruht jedoch vorwiegend auf dem Wissen um die eigenen systemunabhängigen Stärken:
- sicheres Defensivverhalten,
- konstruktiver Spielaufbau,
- variables, torgefährliches Angriffsspiel,
- Selbstvertrauen!
Der FC Bayern hat – auch zuweilen mit etwas Glück – besonders in dieser Saison nachgewiesen, dass Spiele auf höchstem Niveau oft erst in der Schlussphase entschieden werden. Daraus lässt sich zwar nicht schließen, dass Bayern auf späte Torerfolge setzt, doch die Mannschaft bringt in dem Bewusstsein, die eigenen Qualitäten in jedem Spiel einbringen zu können, die notwendige Geduld auf, um "warten zu können“.
Diese Sicherheit ist in der Spielauffassung von Ottmar Hitzfeld begründet, der von den Spielern eine maximale Qualität in der Durchführung sämtlicher Aktionen verlangt.
Henke will daher die erwähnte Geduld nicht als eine abwartende Grundhaltung verstanden wissen. Die Trainer fordern die Qualität auch dahingehend ein, dass jede Chance zum Torabschluss mit höchster Konzentration und Schnelligkeit genutzt werden soll. Aber mit den genannten Eigenschaften und Fähigkeiten im "Hinterkopf“ wird die Bayern-Mannschaft auch in den Schlussminuten nicht so schnell nervös, wenn sie noch keinen Treffer erzielt habe.
„Wenn Hitzfeld ein anderes taktisches Verhalten erwartet, greifen wir sofort ein!“
Zunächst jedoch gilt: Um ein Tor zu erzielen, muss der Ball erobert werden. Vom Gegner initiierte Aktionen sollen verzögert oder unterbrochen werden, um wieder in Ballbesitz zu gelangen. Ort und Zeitpunkt der entsprechenden Defensivaktion ergibt sich aus dem Spiel. Hitzfeld vermeidet also die taktische Anweisung "Forechecking von Beginn an“, da er nicht voraussehen kann, ob diese Spielsituation in den Anfangsminuten überhaupt herzustellen ist. Viele Trainer – auch der Verfasser – haben ihre Teams wohl schon mit dieser Vorgabe ins Spiel geschickt und mussten feststellen, dass sich eine geeignete Situation gar nicht ergab, weil der Gegner mit vielen langen Pässen agierte oder über ein sehr gutes Kombinationsspiel verfügte. Die Folge: Verunsicherung der eigenen Mannschaft.
Hitzfeld baut auf die Fähigkeit seiner Spieler, die im Training durchgespielten Situationen im Spiel sofort wiederzuerkennen und schnellstens die entsprechenden, einstudierten Lösungsmöglichkeiten abrufen zu können.
So erklärt sich auch die vermeintlich verhaltene Spielweise des FC Bayern in den Anfangsphasen vieler Bundesligaspiele. Hinzu kommt, dass die Mannschaft mit außerordentlich schnellen und beweglichen Spitzen ausgestattet ist, die eine besondere Eignung für das Konterspiel aufweisen.
Taktische Flexibilität und psychische Stärke im Spielverlauf
Nun sollen die verstärkten Offensivbemühungen des FC Bayern nach der 3. Minute nicht als Beleg dieser Flexibilität bezeichnet werden. Sie waren wohl angesichts des gegnerischen Rückzugs zum Konterspiel nur die erwartete Folge des frühen Gegentores. Auch der von Effenberg geschickt provozierte Elfmeter ist nicht unbedingt als Nachweis taktischer Überlegenheit zu werten, wenngleich dieser erfahrene Spieler vielleicht bereits beim 0:1 auf eine Konzessionsentscheidung in ähnlicher Konstellation gehofft hat.
Beeindruckend war jedoch die Qualität des konsequenten mannschaftlichen Pressings im Mittelfeld, das nach Ballverlust und dem Nachsetzen des Angreifers auch erfolgreich zum situativen Forechecking aller Spieler ausgedehnt wurde.
Interessanter war die taktische Neuorientierung in und nach der Halbzeitpause. Die Trainer hatten Carsten Jancker mit dem Halbzeitpfiff bedeutet, sich auf eine baldmögliche Einwechslung im Verlauf des zweiten Abschnitts vorzubereiten. Erst während des Kabinenaufenthaltes ordnete Hitzfeld den sofortigen Wechsel an, um im Strafraum des Gegners eine weitere Anspielstation zu erhalten. Die dadurch erforderlichen Umstellungen in der Spielanlage (schnelleres Anspiel in die Tiefe statt des zuvor praktizierten Flügelspiels) waren jedem Spieler sofort präsent. Taktisch flexible, gut ausgebildete Teams verstehen einen – nicht verletzungsbedingten – Spielerwechsel als Signal für Beibehaltung oder Änderung bisheriger Verhaltensmuster.
Ein weiteres Phänomen, das viele Beobachter jedoch mit Unverständnis registrierten, war beabsichtigt und entsprach durchaus dem erwähnten Handlungskonzept und Selbstverständnis der Bayern:
Nach dem Ausgleich setzten sie nicht nach, sondern gestatteten Valencia wieder mehr Spielanteile. Michael Henke betont, dass dieses Verhalten nicht angeordnet worden sei, sondern von der Mannschaft selbständig durchgeführt wurde. Hitzfeld hätte aber sofort entgegengesteuert, wenn er mit dieser Verfahrensweise nicht einverstanden gewesen wäre! Er vertraute auf die Souveränität, Stärke und Handlungsfähigkeit der Mannschaft.
Beweggründe dieses Tempo- und Taktikwechsels können sein:
- Temporeduzierung nach laufintensiven 45 Minuten,
- das Wissen um die Kontergefährlichkeit des CF Valencia bei fortgesetztem, von Euphorie getragenem Anrennen,
- Valencia sollte aus der eigenen Hälfte gelockt und ausgekontert werden.
Henke verweist aber darauf, dass der Gegner schließlich europäische Spitzenklasse verkörpere und nicht 90 Minuten beliebig zu beherrschen sei.
„Mannschaftstaktik entwickelt sich oft situativ aus dem Spiel!“
In der Schlussphase übernahm Bayern erneut die Initiative, wieder ohne entsprechende Anweisung von außen. Ebenso bedurfte es keiner besonderen Hinweise für die Verlängerung angesichts der "Golden-Goal"-Regel. Folgende Randnotiz dokumentiert das Selbstvertrauen, zumindest aber die Konzentrationsfähigkeit der Mannschaft: Einige Spieler mussten vor dem Anpfiff der Verlängerung erst über diese noch gültige Regel informiert werden – sie hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt einfach nicht damit auseinandergesetzt!
Quelle: Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 7/2001 des Fachmagazins Fußballtraining.
Artikelserie „Es stand in Fußballtraining"
„Es stand in Fußballtraining" ist unsere Artikelserie, in der wir einen Blick zurück in 40 Jahre unserer Fachzeitschrift "Fußballtraining" wagen. Hier zeigen wir interessesante Inhalte, die auch heute aktuell sind, oder Taktiken und Trainingsformen, die einen "Meilenstein" des Fußballtrainings darstellen. Machmal sind die Inhalte aber auch "nur "wissenswert, unterhaltsam oder geben einen Einblick in die Ideen und Vorgehensweise damaliger Top-Trainer.