Frauen WM 2023: Spanien gegen die Niederlande
Von „Totaalvoetbal" zum „Juego de Posición"
In den 70er-Jahren berauschten Ajax Amsterdam und die Elftal mit ihrem innovativen „Totaalvoetbal" Fußballfans auf dem gesamten Globus. Hohe Intensität durch kompromisslose Positionswechsel zeichneten diesen Stil ebenso aus wie erste Umsetzungen der Viererkette und überfallartige Pressingmomente. Johan Cruyff gilt neben seinem damaligen Trainer Rinus Michels als Lichtgestalt dieser Ära und ist eine der größten Legenden des Weltfußballs. Kein Wunder also, dass dieses Duo später auch beim FC Barcelona und den Los Angeles Aztecs zusammenarbeiten sollte.
Und natürlich schlug Johan Cruyff nach seiner aktiven Karriere eine Laufbahn als Trainer ein, die ihn von Ajax Amsterdam 1988 erneut zum FC Barcelona führte. In seinen acht Jahren bei den Katalanen legte er den Grundstein für spätere Erfolge und prägte die bis heute währende DNA. Der Jugendakademie wurde wieder mehr Bedeutung zugeführt und so sollte unter Cruyffs Schützlingen auch ein gewisser Pep Guardiola seine ersten Schritte im Profifußball machen. Und dieser war offensichtlich sehr angetan von der Spielphilosophie seines Coaches, die selbstverständlich eine erste Weiterentwicklung des Totaalvoetbals war.
So angetan, dass er schließlich während seiner Karriere das „Juego de Posición" (Positionsspiel) als nächste Stufe des totalen Fußballs auf die Spitze trieb. Er prägte die nächste goldene Ära in Barcelona, die quasi autmatisch auch zum Erfolg der spanischen Nationalmannschaft führte. 2010 traf diese nämlich im Finale der WM in Südafrika auf (natürlich) die Niederlande und konnte durch einen Treffer von Andrés Iniesta in der Nachspielzeit den Sieg klar machen. Alle sechs mitgereisten Feldspieler des FC Barcelona standen in diesem Finale in der Startelf.
Stolze Fußballnationen
Spanien und die Niederlande sind in ihrer Spielidentität eng miteinander verknüpft, ohne dass die einen die anderen stumpf kopiert hätten. Die beiden Nationen zeigen, wie sich der Fußball ständig weiterentwickelt und lieferten den anderen Nationen Stoff dieser „Schönspielerei" entgegenzuwirken. Unterschiedliche Ansätze boten sich an: Beispielsweise die Reinkarnation des „Catenaccio" als defensive Interpretation (bspw. unter José Moruinho), oder eben immer intensivere Pressing- und Umschaltstile als mutigere Variante, die unter anderem durch Jürgen Klopp an Popularität gewannen.
Doch weder die Spanier noch die Niederländer wichen großartig von ihren Wegen ab. Bis heute bleiben sie ihren Stilen treu und halten an den Prinzipien fest. Natürlich verändert sich das Spiel. Trainer wechseln und bringen hin und wieder neue Grundordnungen mit. Doch die DNA bleibt bestehen - und das zeigt sich eben auch bei den Frauen. Dort haben erneut die Niederländerinnen um die ehemalige Weltfußballerin Lieke Martens einen geschichtlichen Vorsprung. Unter Sarina Wiegmann spielte man sehr erfolgreich im klassichen 4-3-3 mit klar aus dem Totaalvoetbal abgeleiteten Prinzipien. Auf den Europameisterinnen-Titel 2017 folgte die bittere 0:2 Niederlage im WM-Finale 2019 gegen die USA.
Und Lieke Martens? Die ging 2017 zum FC Barcelona, wo sie Seite an Seite mit der Weltfußballerin der Jahre 2021 und 2022 Alexia Putellas spielte. Jene Alexia Putellas, auf deren Schultern in diesem Turnier die Hoffnungen einer ganzen Nation liegen. Die Spanierinnen leisteten sich zwar gegen Japan beim 0:4 einen derben Ausrutscher, präsentierten sich davon abgesehen aber sehr souverän und schlugen im Achtelfinale die Schweizer Auswahl von Inka Grings mit 5:1. All das im altbewährten 4-3-3 mit durchaus offensichtlichen Anleihen aus dem Juego de Posición.
Die Niederländerinnen haben nach Wiegmans Abgang zu den Lionesses mit Andries Jonker einen neuen Trainer. Jonker setzt in diesem Turnier konsequent auf ein etwas moderneres 3-1-4-2 System, das jedoch einen nicht weniger dominanten Fußball ermöglicht. Selbst die USA dominierte man beim 1:1 Unentschieden zumindest spielerisch, wobei das Fehlen einer echten Weltklasse-Torjägerin wie Vivianne Miedema auch von Lieke Martens nicht aufgefangen werden konnte. Insofern wird es spannend zu sehen, wer im Viertelfinale der diesjährigen WM „seinen" Fußball besser durchbringt und den Gegner im entscheidenden Moment auf dem falschen Fuß erwischt.