5 Fragen an: Gabriel Imran
Fußballtraining.com: Inwiefern lösen Spielprinzipien taktische Vorgaben im modernen Fussball ab?
Imran: Ein Spielprinzip ist an sich eine taktische Vorgabe. Nur befähigt ein Spielprinzip den Spieler selbst dazu, die Lösung auf dem Platz zu erkennen, wohingegen einzelne losgelöste taktische Anweisungen in der Regel ein „Situationscoaching“ vom Trainer am Seitenrand sind. Diese taktischen Vorgaben im Sinne eines Situationscoachings sind nur auf diese eine Situation zugeschnitten. Danach ist der Spieler aber wieder in einer neuen Situation und wieder von einer neuen taktischen Anweisung des Trainers abhängig. Bei einem Spielprinzip hingegen werden ähnliche, grundsätzlich immer wieder auftretende Situationen gebündelt und können allesamt mithilfe dieses Spielprinzip gelöst werden. Der Spieler kann anhand des Prinzips die Situation und ihre Lösung selbstständig erkennen und ausführen. Durch taktische Vorgaben lernt er das nicht. Daher lösen Spielprinzipien im modernen Fussball mehr und mehr lose taktische Vorgaben ab.
Fußballtraining.com: Julian Nagelsmann ist ebenfalls für seinen Prinzipien-basierten Fußball bekannt und äußerte sich kritisch zur medialen Aufmerksamkeit für Spielsysteme und Grundordnungen. Welche Bedeutung haben Grundordnungen für dich?
Imran: Dem Satz, dass Grundordnungen nur noch für die Medien relevant sind, stimme ich nur zum Teil zu. Es ist viel entscheidender, wie eine Position interpretiert wird. Zum Beispiel kann ein rechter Mittelfeldspieler in eigenem Ballbesitz aus dem Halbraum bzw. Zentrum agieren, wie ein 8er oder 10er oder aber klassisch, wie in der Grundordnung aufgeführt, im rechten Mittelfeld am Flügel. Zudem sagt die Angabe der Grundordnung nicht aus, ob eine Mannschaft beispielsweise aus einem 4-4-2 aktiv presst und aggressiv auf Ballgewinne geht, eher passiv und abwartend verteidigt oder auf welcher Höhe sie überhaupt verteidigt. Dennoch sind die Grundordnungen und grundsätzlichen Zahlenverhältnisse ein wichtiger Orientierungspunkt für mich. Wenn wir in Ballbesitz sind, entscheidet sich der Gegner für das Verteidigen aus einer klaren Grundordnung heraus bzw. wenn wir den Ball gewinnen, gibt es eine bestimme Grundordnung von Restverteidigern beim Gegner, die es zu überwinden gilt. Dies gibt immer Aufschluss darüber, wo ich Überzahl herstellen kann und wo Räume sind, die wir bespielen können (woraufhin wir unsere Grundordnung dann anpassen). Ebenso macht man sich in umgekehrter Weise Gedanken über die eigene Grundordnung: Welche Räume möchte man hergeben, welche nicht? In welchen Mannschaftsteilen (Abwehr-, Mittelfeld-, Sturmreihe) möchte man in Gleich-/Über- oder Unterzahl verteidigen?
Mir ist es relativ egal, wie die Grundordnung aussieht. Auch die Spieler haben da mittlerweile nicht mehr den Fokus drauf, ob da ein 4-2-3-1, ein 4-1-2-3 oder was auch immer steht.
Fußballtraining.com: Wie würdest du das Verhältnis von Prinzipien zu einem konkreten Matchplan beschreiben?
Imran: Prinzipien gelten immer, ansonsten macht es keinen Sinn sie aufzustellen. Daher sind sie das Fundament, auf dem der Matchplan aufgebaut wird. Sie ergänzen den Matchplan, wobei die Prinzipien dem Spieler grundsätzlichen Halt geben. Zum Beispiel wollen wir im Pressing „die Abstände zueinander eng halten“. Das ist ein grundsätzliches Prinzip. Der Matchplan gibt aber womöglich erst vor, welcher unserer Spieler den Anfang machen soll und das Pressing auslöst bzw. wohin man den gegnerischen Angriff lenkt. Das kann von Spiel zu Spiel variieren und gehört dementsprechend in einen Matchplan. Zudem bestimmt der Matchplan, aus welcher Grundordnung man agiert. Prinzipien sind in der Regel von Grundordnungen losgelöst. Ich würde meine Prinzipien nicht im Hinblick auf einen Gegner abändern. Jedoch macht es je nach Gegner Sinn, das eine oder andere Spielprinzip in den Vordergrund zu rücken.
Fußballtraining.com: Woher kommen deine Prinzipien? Gibt es Trainerkollegen oder Spieler, die dich besonders inspirieren?
Imran: Vor einigen Jahren wollte ich weg vom „Situationscoaching“, da ich nicht das Gefühl hatte, dass die Spieler auf diese Weise nachhaltig und effizient dazulernen. Sie agierten mir nicht selbstständig genug. Da habe ich zum ersten Mal von Spielprinzipien gehört und mich auf die Reise begeben, meine eigenen aufzuschreiben und neue zu finden. Dabei habe ich meine eigenen Spiele sowie Topaktionen aus dem Profifussball auf wiederkehrende „Erfolgsmuster“ analysiert. Ich habe mir die Frage gestellt: Warum hat das jetzt schon wieder funktioniert? Zum Beispiel ist mir dabei aufgefallen, dass sich Spieler wie Xavi, Iniesta, Schweinsteiger oder Kroos immer im größtmöglichen Raum oder einer Schnittstelle zwischen zwei Gegnern angeboten haben und deswegen so ballsicher und schwer unter Druck zu setzen waren. Ein anderes Mal habe ich mir Zeit genommen, alle Situationen vom 1 gegen 1 über 2 gegen 2 bis hin zum 11 gegen 11 aufzuzeichnen und mich dann gefragt: Wie löst man die jeweilige Situation auf? So bin ich schnell auf die Prinzipien der Laufwege gestoßen und dass dem Ganzen eine Grundsätzlichkeit, ein Prinzip, zugrunde liegt. Darüber hinaus schnappt man über die Jahre als hauptberuflicher Trainer immer wieder wertvolle Informationen von anderen Trainerkollegen auf, die gepaart mit anderen Informationen über die Zeit zu einem Prinzip wurden. So hatte ich nach einer gewissen Zeit für alle Spielphasen Prinzipien und konnte meine Spieler selbstständig auf dem Platz agieren lassen. Am Ende ist es eine Mischung aus Erfahrung auf dem Platz, Analyse und Inspirationen von anderen Trainerkollegen und deren erfolgreicher Spielweise.
Fußballtraining.com: Als Jugendtrainer hast du Jahr für Jahr eine große Fluktuation im Kader. Ist das für dich ein Anlass, deine Prinzipien zu verändern?
Imran: Nein, die Prinzipien sollten nicht verändert werden, sonst wären sie ja keine Prinzipien, auf die man sich verlassen könnte. Vielmehr geht es bei neuen Spielern darum, sich zu fragen, welche Prinzipien ihnen jetzt gerade in ihrer Entwicklung weiterhelfen könnten? Es ist eher die Auswahl an Prinzipien, die sich mit der Fluktuation an Spielern ändern könnte bzw. die Frage, welche Prinzipien man mehr betonen und in den Vordergrund stellen sollte. Darüber bietet es sich eventuell an, ein komplexes Prinzip zu vereinfachen, wenn die Spielerentwicklung es derzeit für sinnvoll erscheinen lässt.