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S C H I E D S R I C H T E R - Z E I T U N G 1 / 2 0 1 4
Analyse
Zweikampf im Abseits
Die ersten beiden Szenen, mit denen sich Lutz Michael Fröhlich und Lutz Lüttig bei ihrer Analyse
des Bundesliga-Geschehens befasst haben, drehen sich um die Auslegung und Anwendung der
Abseitsregel. Die FIFA hatte zur neuen Saison unter anderem eine Klarstellung des wichtigen
Begriffs „einen Gegner beeinflussen“ herausgegeben.
D
rei Kriterien muss ein Schieds-
richter beachten, wenn er fest-
stellen will, ob ein Angreifer, der
im Abseits steht, dafür bestraft
werden muss. Pfiff und indirekter
Freistoß müssen erfolgen, wenn
der Angreifer „aktiv am Spiel teil-
nimmt, indem er ins Spiel eingreift,
einen Gegner beeinflusst (oder)
aus seiner Position einen Vorteil
zieht“.
Zur Saison 2013/2014 sind zwei die-
ser Gründe vom International Foot-
ball Association Board (IFAB), dem
höchsten Regel-Gremium des Welt-
Fußballs, präzisiert worden: Zum
einen betrifft das den Vorteil, den
ein Spieler aus seiner Abseitsposi-
tion ziehen kann, zum anderen –
und das soll uns hier beschäftigen –
geht es um die Einwirkung auf
einen Gegenspieler.
Schauen wir zunächst auf den bis-
herigen Regeltext: „,Einen Gegner
beeinflussen‘ heißt, dass der Spie-
ler einen Gegenspieler daran hin-
dert, den Ball zu spielen oder
spielen zu können, indem er ein-
deutig die Sicht des Gegners ver-
sperrt oder Bewegungen oder
Gesten macht, die den Gegner
nach Ansicht des Schiedsrichters
behindern, täuschen oder ablen-
ken.“
Der unterstrichene Teil des Textes
zeigt, worum es bei dem Antrag
der FIFA an den IFAB ging. Den
Gegner mit Bewegungen oder
Gesten „behindern, täuschen oder
ablenken“ kann man auf vielfältige
Weise. Die Formulierung „nach
Ansicht des Schiedsrichters“ ver-
stärkt dazu noch die mögliche
unterschiedliche Anwendung der
Vorschrift durch den Schiedsrich-
ter und seinen Assistenten, der ja –
wenn das Spiel von einem Team
geleitet wird – gerade bei der
Abseitsfeststellung eine große
Rolle spielt.
Deshalb lautete die Begründung
für den Antrag auch: „Der beste-
hende Wortlaut führt zu vielen
Diskussionen, weil er interpreta-
tionsbedürftig und nicht präzise
genug ist.“ Wer will, kann nun ein
wenig hämisch anmerken, dass
man das schon längst hätte mer-
ken können; schließlich gab es die-
sen Text schon viele Jahre lang.
Aber darum geht es uns nicht,
schauen wir uns lieber die neue
Formulierung an: ,„Einen Gegner
beeinflussen‘ heißt, dass der Spie-
ler einen Gegenspieler daran hin-
dert, den Ball zu spielen oder spie-
len zu können, indem er eindeutig
die Sicht des Gegners versperrt
oder den Gegner angreift, um den
Ball spielen zu können.“
Das ist in der Tat präziser, denn es
geht um einen sehr häufig vor-
kommenden fußballspezifischen
Vorgang – nämlich die Einleitung
eines Zweikampfs – und nicht mehr
darum, wie ein Schiedsrichter
Bewegungen und Gesten und ihre
Auswirkung auf einen Gegenspie-
ler interpretiert.
Die erste Szene, die das verdeut-
lichen soll, stammt aus dem Zweit-
ligaspiel
1.
FC Kaiserslautern
gegen den TSV München 1860
(9.
Spieltag).
Bei der Kopfball-Ver-
längerung einer Flanke durch den
Lauterer Florian Dick steht sein
Mitspieler Mohamadou Idrissou am
Torraum vor dem Münchner Tor
knapp im Abseits. Als Münchens
Torwart Gabor Kiraly nach dem Ball
hechtet, versucht Idrissou, mit
dem „langen“ Bein an den Ball zu
kommen
(
Foto 1a+b).
Der Torwart
macht sich am Boden etwas „klei-
ner“, um einen Zusammenstoß mit
dem Angreifer zu vermeiden. Er
kann den Ball nicht festhalten, der
im Nachschuss in seinem Tor lan-
det.
Aber Schiedsrichter Robert Kampka
erkennt den Treffer nicht an, weil
Idrissou aus seiner Abseitsstellung
heraus „den Gegner angreift, um
den Ball spielen zu können“, um
noch einmal die neue Definition zu
zitieren.
Sicherlich hätte auch der ehemalige
Text gereicht, um einen Pfiff des
Schiedsrichters auszulösen. Denn
Deutlich zu erkennen: Der vom Pfosten verdeckte Idrissou
attackiert Torwart Kiraly, „um den Ball spielen zu können“
(
Regeltext). Damit wird seine Abseitsstellung strafbar.
Auch in der Totalen ist die Attacke auf den Torwart erkennbar.
Foto 1a
Foto 1b